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Sonntag, 19. Juni 2011

Die neuen Selbstversorger

Von Esther Banz. Aktualisiert am 27.05.2011

Nicht im Schrebergarten, sondern auf dem gepachteten Pflanzplatz sät und erntet eine neue Generation von Städtern ihr Gemüse. Zu Besuch bei den Zürcher Urban-Farming-Pionieren im Dunkelhölzli.
1/8 Tinu Balmer: «Was wir hier tun, gibt anderen vielleicht den Mut, selber etwas zu starten»
Bild: Anne Gabriel-Jürgens und Marvin Zilm/13 Photos

   

Projekte in und um Zürich

Pflanzplatz Dunkelhölzli:

www.dunkelhoelzli.ch
Pachtflächen von Grün Stadt Zürich:

www.stadt-zuerich.ch/gsz, dann «Angebote & Beratung», darauf «Pachten und Mieten» anklicken.

Temporäre Gärten in Kisten (und dereinst auf einem der Dächer in der neuen Kalkbreite-Überbauung:
www.kalkbreite.net
Gartenkooperative Orto Loco in Dietikon:

www.ortoloco.ch
Stadtlandnetz Winterthur:

www.stadtlandnetz.ch
Holzlabor (und Gemüseabos) in Thalheim ZH:
www.xylem.ch
In Planung: Hors-Sol-Aquaponic-Kulturen auf Dächern:

www.urbanfarmers.ch
Aus der Ferne fallen zuerst die Sonnenhüte auf, beim Näherkommen dann die Gummistiefel: Zwei Männer stehen gebückt zwischen langen Beeten und jäten. Das Unkraut werfen sie in Kübel, dann bücken sie sich erneut, immer weiter. Eine ältere Spaziergängerin bleibt stehen, schaut lange zu. Die beiden Männer auf dem Feld am Rande von Zürich-Altstetten sind Ueli Ansorge und Tinu Balmer. Der Agronom und der Grafiker haben letztes Jahr zusammen den Pflanzplatz Dunkelhölzli gegründet. Die Idee war, eine urbane Anbaugemeinschaft zu bilden, wie es sie in Basel und der Romandie schon länger gibt: Die Mitglieder holen gegen einen im Voraus bezahlten fixen Preis einmal wöchentlich eine Tasche mit erntefrischem Gemüse ab und erklären sich bereit, an mindestens zwei Tagen im Jahr auf dem Feld mitzuhelfen.

Fläche, um hundert Haushalte zu versorgen
Als sie im Mai 2010 starteten, wussten Ansorge und Balmer nicht, ob sie genügend Interessenten finden würden. Aber kaum verbreitete sich die Nachricht vom Gemüseacker am Stadtrand via E-Mail, meldeten sich Künstlerinnen, Studenten und Eltern, die eines der Abos haben wollten. Und das Gemüse gedieh prächtig. Nach der Winterpause beschlossen die beiden Initianten, den Pflanzplatz zu vergrössern. Grün Stadt Zürich, die ihnen das Land verpachtet, reagierte positiv und konnte zusätzlichen städtischen Boden in der Umgebung vermitteln. Seit diesem Frühjahr bewirtschaftet der Verein Stadtrandacker zwei weitere Pflanzplätze nach biologischen Kriterien, insgesamt knapp eine Hektare. Das ist genügend Fläche, um rund hundert Haushalte mit Gemüse zu versorgen. Innerhalb weniger Wochen war ein Grossteil der Abos vergeben, und das, obwohl man in der Migros und bei Coop zu vergleichbaren Preisen Biogemüse kaufen kann, ohne anstrengenden Körpereinsatz (ein Saisonabo für ein bis zwei Personen inkl. zwei Kilo Gemüse pro Woche kostet 540 Franken).
Der Acker im Dunkelhölzli ist das einzige derartige Projekt in der Stadt, aber nicht in der Region: Zur gleichen Zeit ist in Dietikon die Gemüsekooperative Orto Loco entstanden, und in der Region Winterthur gibt es – ebenfalls seit letztem Jahr – mit dem Holzlabor und der Gemüsegenossenschaft Stadtlandnetz gleich zwei Gemüseanbau-Initiativen nach dem Prinzip der Vertragslandwirtschaft: Die Konsumenten beziehen direkt beim Produzenten eine zuvor vereinbarte und bezahlte Menge. Ob und wie viel auf dem Feld mitgearbeitet wird, ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich geregelt. Was die Westschweiz schon lange kennt, scheint sich auch in der Region Zürich zu etablieren. Auch in anderen Metropolen Europas und in den USA steigen zunehmend Städter in die Gummistiefel, um auf Flächen am Stadtrand oder auf Dächern und in Hinterhöfen gemeinsam ökologisch Gemüse zu produzieren. Letztes Jahr auch mitten in Zürich: Da, wo die Kalkbreite-Genossenschaftssiedlung entsteht, pflanzten Leute aus dem Quartier in Kisten Blumen und auch Gemüse an. Ob man dem nun «Urban Agriculture», «Urban Farming» oder «Urban Gardening» sagt – das «gemeinsam» unterscheidet die neue Form des Anbaus vom Balkon-, Einfamilienhaus- und Schrebergarten.
Glückliches Gemüse
Spielt es eine Rolle, ob man allein oder gemeinsam anbaut? «Ja», sagt Sonja Hagedorn, «ich wollte schon länger selber Gemüse pflanzen, aber mir fehlte schlicht das Wissen.» Die 41-jährige Mutter von zwei Buben wohnt in der Nähe des Pflanzplatzes Dunkelhölzli und wurde Mitglied. Anstatt zwei Tage insgesamt mitzuhelfen, verbrachte sie im Sommer 2010 einen guten Teil ihrer Freizeit auf dem Acker. «Die Idee, dass man den Städtern eine Wiese gibt, auf der sie selber Gemüse produzieren können, gefiel mir. Man bekommt einen direkten Bezug zum Essen. Ausserdem wollte ich etwas lernen», sagt sie, «und ein Schrebergarten ist nicht meine Sache – all die Vorschriften, die Häuschen da … und die ganze alleinige Verantwortung, das hätte ich zeitlich nicht bewerkstelligen können.»
Sonja Hagedorn ist (noch) eine der wenigen Nachbarinnen, die an dem Projekt teilhaben – die meisten Pflanzplatz-Mitglieder kommen einmal die Woche aus den Kreisen 3, 4 und 5 angeradelt, um direkt dort, wo das Gemüse gewachsen ist, ihre Erntetaschen abzuholen. Andere lassen sie sich vom Velokurierdienst der Stiftung Züriwerk in die Foodcoop Tor 14 an der Bäckerstrasse liefern. Und seit neustem gibt es im Kreis 3 Dunkelhölzli-Gemüse über die Gasse. In einem E-Mail schreibt das Pflanzplatz-Team den Abonnenten dazu: «An der Kalkbreitestrasse im Kiosk beim Bundeshaus treibt der Pflanzplatz innerstädtische Blüten. Hier verkauft Yves Produktionsüberschüsse ab unseren Feldern als glückliches Gemüse. Schaut vorbei, es macht Freude, vielleicht trefft ihr den Gemüsekiosk offen an ... unplanmässige Öffnungszeiten.»
Die Lust, gemeinsam etwas zu schaffen
Einer von denen, die den wöchentlichen Gang zum Pflanzplatz nicht missen möchten, ist der Schriftsteller Peter Weber. Für ihn ist der Acker ein «Stadtrandphänomen». Diesen zwischen Mehrfamilienhäusern und landwirtschaftlich genutzten Flächen liegende Winkel kannte er von den Spaziergängen mit seinem Hund schon zuvor, Mitglied wurde er wegen Tinu Balmer, mit dem er befreundet ist. «Wo Tinu dabei ist, nehmen die Dinge Gestalt an, auf allen Ebenen. Vor einigen Jahren hat er zusammen mit dem Autor Christoph Meier und anderen das brachliegende Hotel Alpenhof im Appenzellerland auf Vordermann gebracht und in einen ‹Kulturfrachter› verwandelt.» Zurück in Zürich, gründeten die beiden die Foodcoop Tor 14.
Und schliesslich kam Ueli Ansorge mit der Idee des Pflanzplatzes auf Tinu Balmer zu. Bei all diesen Projekten geht es um die Lust, gemeinsam etwas zu schaffen und zugleich den eigenen Qualitätsansprüchen gerecht zu werden. «Auch die Gestaltung spielt immer eine Rolle», sagt Peter Weber, «das geht selbst beim Pflanzplatz bis hin zu den Texten, der Website und den extra gefertigten Taschen, in denen das Gemüse transportiert wird.» Er stehe nicht zum ersten Mal in einem Garten, sagt Weber, aber «dieser Ort macht vieles noch einmal deutlicher. Die Vielfalt, Beet für Beet: Ich empfinde sie als inspirierend.»
Weber vergleicht die Entwicklung des Pflanzplatzes mit der eines Buches: «Beides geht sehr langsam vonstatten, dauert über Jahre – das Schreiben hat im Gegensatz zur Arbeit auf diesem Acker aber etwas Zurückgezogenes, deshalb ist es umso schöner, in diese Zone zu kommen, wo die Leute miteinander etwas entstehen lassen. Bei Sonnenuntergang, am Feldrand sitzend, wird diskutiert, rekapituliert, weitergeplant und so weiter. Das erinnert mich an die Zeiten, als man sich noch in Cafés traf. Ich bin eben eher der Gesprächsgärtner», sagt er und lacht.
Immer mehr Familien gärtnern
Zum Pflanzplatz Dunkelhölzli gehört ein kleines Häuschen. Darin sind die für die Bearbeitung des Bodens notwendigen Gerätschaften untergebracht, im Kühlschrank hat es Bier und Würste, auf dem Gestell eine italienische Espressomaschine, in einer anderen Ecke zig Tüten mit biologischen Samen, darunter auch alte Sorten. Ausserdem: mehrere Paar Gummistiefel, Kleider, die dreckig werden dürfen, und geerntetes Gemüse. Der gelernte Agronom Ueli Ansorge, verschwitzt und braun gebrannt von all den Stunden auf dem Feld, kratzt sich erst mal am Hinterkopf, wenn man ihn nach seiner Motivation für das Projekt des Gemeinschaftsgartens fragt. «Ich wollte schon mal einen Hof betreiben. Aber auch die Vorzüge der Stadt möchte ich nicht missen. Also wäre nur ein Hof auf Stadtgebiet infrage gekommen, und die sind alle vergeben. Ausserdem stehe ich noch am Anfang, und es reizte mich mehr, etwas mit anderen aufzubauen, als allein für einen grossen Betrieb verantwortlich zu sein.»
Jetzt ist er «Personal Farmer» von Dutzenden Städtern, die nicht nur mit anpacken, sondern auch etwas lernen wollen. Möglich ist das Ganze nur dank viel Enthusiasmus, der Unterstützung zweier Personen, die im Rahmen des Arbeitsprogramms des Sozialdepartements fest mitarbeiten, sowie der zum Teil regelmässigen Mithilfe der Abonnenten auf dem Feld – und auch dank des Goodwills vonseiten der Stadt, konkret von Markus Wittmer und seinem Team bei Grün Stadt Zürich, denn nicht nur günstige Wohnungen sind rar, sondern auch Pachtflächen und Brachen, auf denen experimentiert werden kann. Die Verantwortlichen bei der Stadt zeigten sich von Anfang an kooperativ. Wittmer sagt: «Wir sind offen für gute Ideen. Freilich könnten wir selber solche Projekte anstossen – wir sind aber der Meinung, dass sie nur nachhaltig funktionieren, wenn sie von ‹unten› kommen, von den Leuten selber.»
Gemüse wächst nicht im Migros-Regal
Wittmer stellt fest, dass die Städter wieder vermehrt gärtnern wollen, auch in den Schrebergärten, von denen es in der Stadt rund 5500 gibt: «Lange Zeit war der Kleingarten für viele vor allem als Erholungsort von Bedeutung, jetzt wird wieder vermehrt angebaut, und die Familiengartenvereine, die die Kleingärten verwalten, verzeichnen eine grössere Zahl von Interessierten, die eine Fläche pachten möchten.» Vor allem für städtische Familien mit Kindern sei das Selbergärtnern wieder vermehrt ein Thema. Man will wissen, wo das Gemüse herkommt und einen direkten Bezug dazu herstellen, den Kindern ein Bewusstsein dafür mit auf den Weg geben, dass der Maiskolben nicht im Migros-Regal wächst.
Das ist auch die Motivation vieler junger Eltern, die beim Pflanzplatz Dunkelhölzli dabei sind. Der Gemeinschaftsgarten unter professioneller Leitung hat den Vorteil, dass man nicht die ganze Zeit über selber auf dem Feld stehen muss. Simon Appel nennt noch weitere. Er ist Koch und wohnt mit seiner Partnerin und der gemeinsamen zweijährigen Tochter in Zürich-Albisrieden. «Während der ganzen Ausbildung zum Koch wird dir eines immer wieder gesagt: Hab Respekt vor den Produkten! Diese Wertschätzung ist der Grundstein für ein gutes Gericht. Indem man selber anbaut und sieht, wie die Pflanzen wachsen, indem man sie hegt und pflegt und schliesslich erntet, was der Boden hergibt, wächst mit dem Bewusstsein auch die Wertschätzung. Deshalb hatte ich schon länger die Idee, selber Gemüse zu pflanzen.» Eines Tages ist er beim Dunkelhölzli-Acker vorbeigeradelt, hat sich gewundert, was da passiert – und ist, ohne lange zu überlegen, Mitglied geworden. Seither ist er einer von denen, die regelmässig zwischen den Beeten anzutreffen sind. «Ich profitiere von Uelis Wissen. Er hat mir vieles erklärt, beispielsweise, weshalb er die Zwiebeln neben die Karotten pflanzt. Ich weiss jetzt auch, wie tief man die Zwiebeln in die Erde setzt oder weshalb man ihnen nicht zu viel Wasser geben darf.»
Handys kann man nicht essen
Für ihn sei dieses Projekt und sein Mittun aber auch ein politischer Akt, sagt Appel: «Dass Lebensmittel zum Teil um die halbe Welt geschickt werden, geht ja nur, weil der Treibstoff immer noch so billig ist und Landarbeiter so schlecht verdienen.» Zudem sei beim billigen Produzieren für die Massen der Respekt für die Natur abhandengekommen. «Klar», sagt er, «Innovationen und Technik haben dazu beigetragen, dass die Lebensmittel heute so günstig sind, aber das bedeutet auch Monokulturen und viel Gifteinsatz.» Appel rätselt, wie es sein kann, dass sich die Leute so sehr für ihre Computer und Handys interessieren – und so wenig für das, was sie essen. Vielleicht gerade, weil die Produkte so günstig sind? «Sicher, weil der direkte Bezug fehlt. Und damit eben auch die Wertschätzung. Kürzlich ist mir beim Einkaufen im Laden eine Frau aufgefallen, die bei den Früchten und Gemüsen stand. Sie nahm immer wieder verschiedene in die Hand, ehe sie sich entscheiden konnte. Früchte oder Gemüse auszusortieren, käme einem nie in den Sinn, wenn man selber mal gepflanzt hat und weiss, wie sich die Hände hinterher anfühlen.»
Dass eine ältere Person, die am Pflanzplatz Dunkelhölzli vorbeispaziert, stehen bleibt und zuschaut, passiert öfter. Vielleicht, weil der Platz einfach schön aussieht mit seiner Vielfalt auf kleinem Raum. Vielleicht aber auch, weil alte Bilder in ihnen wieder lebendig werden; Bilder von früher, als noch viel mehr Menschen selber und von Hand anbauten. Gut möglich, dass das Modell Pflanzplatz Dunkelhölzli, das Peter Weber auch als «poetische Zone» bezeichnet, noch andere zu inspirieren vermag. Der Schriftsteller ist überzeugt, dass dem so sein wird: «Die Dynamik und die undogmatische Frische – das erinnert mich an andere Formen der Zwischennutzung, wie etwa die Container-Siedlung in der Binz. Aus denen kann viel Neues hervorgehen.» Und die Stadt unterstützt das, wie Markus Wittmer von Grün Stadt Zürich sagt: «Es gefällt uns, wenn die Leute wieder mehr Bezug zu dem schaffen, was sie essen.»
Alle in Zürich Lebenden mit Produkten aus städtischen Gärten und Landwirtschaftsflächen zu versorgen, wäre zwar unmöglich, rechnet er vor, denn dazu bräuchte es die achtfache Fläche der Stadt respektive die gesamte Landwirtschaftsfläche des Kantons; das hat Grün Stadt Zürich im Zuge einer Anfrage im Gemeinderat zum Ziel der 2000-Watt-Gesellschaft herausgefunden. Aber in Projekten wie dem Dunkelhölzli sieht Wittmer die Chance, dass sich Interessierte das nötige Wissen aneignen können, um zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht einen eigenen Garten zu betreiben. Das sieht auch Tinu Balmer so: «Was wir hier tun, gibt anderen vielleicht den Mut, selber etwas zu starten.» Und Ueli Ansorge sagt: «Jeder hat seine eigene Motivation, hier mitzumachen. Sei es die Ernährungssouveränität, seien es ökologische, soziale oder gesundheitliche Überlegungen oder das Wiedererlangen des Bezugs zum Essen – letztlich ist das Gärtnern einfach auch etwas Schönes.»

Quelle und Dank an: www.zueritipp.ch

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