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Montag, 19. März 2012

Der Verrückte mit dem Fahrrad


von uhupardo
Halder 1
Da steht ein Mann an der Ecke, halb versteckt, verschämt. Dann entschliesst er sich doch, klopft an die Hintertür der Kirche in einem Stadtviertel von Lissabon und bitte um etwas zu essen. Justino Serrano nickt, verschwindet in einem Gang und kommt mit einer Tüte zurück. Hühnersuppe und gekochtes Fleisch in kleinen Plastikbehältern sind darin. Justino, ein alter Haudegen mit mehr als 15 Jahren Erfahrung im verlorenen Krieg gegen die Armut in Lissabon, zuckt mit den Schultern, als wollte er sagen “es ist unglaublich!”, bevor er laut sagt: “Jeden Tag gibt es hier mehr Menschen, die etwas zu essen brauchen und sich schämen, danach zu fragen.” Justino, klein, rundlich und sehr offen, ist einer der Helfer des Projekts Re-Food, einer der billigsten, einfachsten und effektivsten Formen, gratis-Lebensmittel an diejenigen zu verteilen, die Hunger leiden.

Die Idee stammt von Hunter Halder, einem US-Amerikaner, der auf seinem Fahrrad an der Kirche ankommt. Der Mann ist die personifizierte Entschlossenheit zwischen den hoffnungslosen Hügeln von Lissabon. Vor zwei Jahren hatte die portugiesische Krise seinen Job weggespült. Damals war er 58 und Personalchef, verantwortlich für berufliche Weiterbildung. Halder lebt seit 1992 in der Hauptstadt. Einmal in der Arbeitslosigkeit angekommen, beschloss er, dass es nun Zeit wurde für so ein Hilfsprojekt, mit dem er gedanklich schon öfter mal gespielt hatte. Innerlich stark, unverwüstlich und grenzenlos optimistisch, wie es manche US-Amerikaner sind, wollte er eine seiner vier Ideen umsetzen.
Halder 2
Am Ende improvisierte er dann doch die fünfte Idee, als er mit seiner Familie essen war und seine Tochter darüber klagte, wieviel in solchen Restaurants weggeworfen würde. “Ich erklärte ihr das Übliche: Ist leider unvermeidlich, Angebot und Nachfrage, das System ist leider so, aber sie hätte natürlich Recht … verdammt nochmal, dachte ich, und begann nachzudenken.” – Halder suchte eine einfache und effiziente Möglichkeit, die Verschwendung einzusammeln und sie dort zu verteilen, wo sie gebraucht wurde. Danach sprach er mit seinem Sohn darüber, Spezialist darin, die gut gemeinten Verrücktheiten von den realisierbaren Initiativen zu unterscheiden. Der mit-den-Füssen-auf-dem-Boden-Sohn hörte zu, dachte nach und urteilte: “Das funktioniert, Papa!”
Zuerst teilte Halder seinen Lissaboner-Vorort Nuestra Señora de Fátima im Kopf auf. Er suchte sich vier Strassenzüge aus und durchkämmte sie mit dem Fahrrad sorgfältigst. Seine Weihnachtsmann-Aura und die absolute Entschlossenheit zeigten Wirkung. Restaurant-Besitzer, die Filial-Leiter von Supermärkten und Bäckereien sagten Hilfe zu. Halder versprach, an bestimmten Tagen die übrigen Lebensmittel einzusammeln und unter diejenigen zu verteilen, die in dem Viertel von der Krise 2008 weggeschwemmt worden waren. Um die neuen Armen ausfindig zu machen, ging er ebenso methodisch vor wie vorher. Haus für Haus, Stockwerk für Stockwerk, besuchte er die Bewohner, um herauszufinden, wo seine Lebensmittel-Verstärkung, wie er das nennt, gebraucht würde.
Halder 3
So lernte er auch María Incógnita kennen, die er selbst so taufte und die längst zu einem Symbol geworden ist. Die ältere Dame, die unweit der Kirche wohnt, beichtete ihm beim ersten Besuch: “Sie sagte mir, sie habe kein Geld und brauche etwas zu essen. Aber sie würde lieber an Hunger sterben, als dass ihre Freunde und Bekannten jemals erführen, dass das so ist. Diese Schande ertrage sie nicht. Ich sagte ihr, ich würde ihr jeden Tag eine Tasche voll Essen bringen. Das wollte sie auch nicht, jemand könnte mich sehen. Also gab sie mir den Schlüssel vom Patio. Jede Nacht steige ich die Treppe hinauf, hinterlasse ihr da eine Tüte, die sie später abholt. Ausser Justino und mir weiss niemand, wer María Incógnita ist.”
Re-Food ist nicht die einzige Hilfsorganisation, die im gebeutelten Portugal jeden Tag mehr Hilfsanfragen bekommt. Die “Lebensmittel-Bank gegen den Hunger” verteilt jeden Tag Essen an 330.000 Bedürftige. Zehn Prozent der Bevölkerung! – “Die Zahl nimmt täglich zu”, versichert ihre Vorsitzende, Isabel Jonet, “wir verteilen das nicht direkt an die Leute sondern stellen es den verschiedenen Hilfsgruppen zur Verfügung. Aber der Bedarf nimmt deutlich und kontinuierlich zu. Das Problem ist nicht der Hunger sondern die Arbeitslosigkeit und die Verschuldung der Familien. Die Mittelklasse geht unter. Das sind vollkommen verunsicherte Menschen, die nie in solch einer Situation waren; in der Arbeitslosigkeit plötzlich nicht mehr wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen und wie das kurz- oder mittelfristig besser werden könnte.”
Halder 4
Zu Beginn arbeitete Halder allein. Das war die Zeit, als er sich den Spitznamen “Der Verrückte mit dem Fahrrad” einhandelte. Dann fragten mehr und mehr Leute, was er denn da ständig tue mit den Tüten am Lenker. Nach einem Monat hatte er bereits fast 30 Helfer. Der erste “Firmensitz” war seine Küche zu Hause. Danach wurde er in ein kleines Lokal für gefrorene Produkte verlegt. Heute verköstigt Re-Food täglich 200 Bedürftige, die meisten in ihrer Wohnung, sammelt Lebensmittel in 45 Restaurants, Cafés und Bäckereien ein, verfügt über einen kleinen Speisesaal im Kirchenflügel. Bald wird man den Radius auf 285 Restaurants erweitern, und in nicht allzu langer Zukunft will Halder ganz Lissabon abdecken.
Lisboa
Der Verrückte mit dem Fahrrad ist überzeugt, dass er das schafft. Er ist auch überzeugt, dass die Krise in Portugal und ganz Europa einen Wertewandel mit sich bringen wird. Und er versichert, dass die Portugiesen heute solidarischer sind als vor einem Jahr. Halder verdient nichts seit zwei Jahren: “Wir akzeptieren Spenden, aber die sind für´s Hilfsprogramm”, sagt er. Manchmal nimmt Halder auch eine Tüte mit nach Hause in dem Korb auf seinem Fahrrad. Übriges Essen aus irgendeinem Restaurant, eingesammelt von seinen Helfern.

Quelle und Dank an:  http://uhupardo.wordpress.com

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