Der Radiologe Gerd Reuther hat das Gesundheitswesen gründlich durchleuchtet. In seinem Buch sagt er: Medizin schadet oft mehr, als sie nützt.
Er steht in einer Reihe mit so bekannten
Medizinkritikern wie Eckart von Hirschhausen (TV-Moderator) und Karl
Lauterbach (SPD-Politiker). Die Bücher seiner zwei Arztkollegen, "Wunder
wirken Wunder" und "Die Krebsindustrie", sind Beststeller geworden.
Gerd Reuthers Buch "Der betrogene Patient" ist auf dem Weg dahin. Kurz
nach seinem Erscheinen wird es bereits auf Platz 39 der
Spiegel-Bestsellerliste geführt.
Der renommierte Radiologe, aufgewachsen in Hegnabrunn (Landkreis Kulmbach) und jetzt in Coburg beheimatet, hat das Gesundheitswesen grundlegend durchleuchtet. Herausgekommen ist eine Generalabrechnung mit dem Medizinbetrieb in Deutschland. Der Arzt mit über 30 Jahren Berufserfahrung deckt auf, dass die Medizin oft nicht am langfristigen Wohlergehen von Kranken ausgerichtet ist, sondern sich mehr am Gewinn von Kliniken, Ärzten und Pharmaindustrie orientiert.
Herr Reuther, haben Sie noch viele Freunde unter den Ärzten?
Gerd Reuther: Ja, doch. Die Reaktionen auf das Buch sind erstaunlich positiv. Ich habe mit vielen Kollegen gesprochen, die mir mindestens in Teilen recht geben. Sie sind genauso unzufrieden.
Sie sagen, dass den meisten ärztlichen Behandlungen der Nachweis der Wirksamkeit fehlt. Gelten Sie als Nestbeschmutzer?
Bei einem Teil der Kollegen bestimmt. Bei denen, die Behandlungen durchführen, die sie nie an sich selbst machen lassen würden. Sie befürchten eine Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenz. Wer das Patientenwohl in den Mittelpunkt stellt, sieht meine Kritik differenzierter.
Wann haben Sie gemerkt, dass im Gesundheitssystem etwas schiefläuft? Woher kommt Ihr Unbehagen?
Das Unbehagen hat sich schleichend entwickelt. Im Studium merkt man wenig. Da findet keine Methodenkritik statt. Nach der Facharztausbildung fangen die Zweifel an. Man sieht, dass nicht wenige Patienten durch die Behandlung Folgeschäden davontragen. Inzwischen gibt es Untersuchungen, die belegen, dass bestenfalls zehn Prozent der medizinischen Maßnahmen sinnvoll sind. Auch Hirschhausen stellt in den Raum, dass 80 Prozent der Medizin unnötig ist.
Sie provozieren. Sinngemäß sagen Sie: Medizin schadet oft mehr, als sie nützt.
Ja, das stimmt. Die Diskrepanz zwischen Nutzen und Schaden ist aber auch drastisch. Mein Buch enthält Zahlen, die nur Schätzungen sein können. Denn Patientenschäden und Todesfälle, die durch medizinische Maßnahmen bedingt oder mitverursacht sind, werden in Deutschland nicht systematisch untersucht und gemeldet. Aber es gibt gesicherte Zahlen aus dem Ausland: Todesfälle durch Operationen, Medikamente und Krankenhauskeime machen etwa ein Viertel aller Todesfälle aus - das wären für Deutschland zirka 200.000 im Jahr.
Was stört Sie am jetzigen System am meisten?
Das ist diese mangelnde Selbstkritik. Im Deutschen Ärzteblatt ist eine Arbeit über Behandlungsfehler erschienen. Mit dem Ergebnis: Das Risiko ist gering. Es wurden allerdings ausschließlich Zahlen verwendet, wenn sich Patienten oder deren Angehörige beschwerten. Anerkannt wurden insgesamt 1845 Fälle, davon 96 Todesfälle in einem ganzen Jahr. Das ist grotesk und bedeutet: Es gibt überhaupt keine Fehlerkultur. Fehlervermeidung ist nicht gewollt.
Kann das Medizinsystem so falsch sein, wenn zum Beispiel Herzpatienten durch einen einfachen Stent einen Herzinfarkt vermeiden konnten oder wenn durch die Polioimpfung die Kinderlähmung besiegt wurde?
Es gibt auch sinnvolle und lebensrettende Maßnahmen - nur, das ist die Minderheit. So findet auch bei Verengungen der Herzkranzgefäße regelmäßig eine Übertherapie statt. Etwa 30 Prozent der Stents müssten nicht gesetzt werden.
Wie müsste eine neue, bessere Medizin aussehen?
Das Patientenwohl muss immer an erster Stelle stehen. Das ist allzu oft nicht der Fall. Derzeit gehen wirtschaftliche Interessen häufig vor. Es wird gefragt: Welche Erlöse kann man mit welchen Maßnahmen erzielen? Deshalb werden Operationen häufiger durchgeführt, weil sie besser vergütet sind. Konservative Behandlungen - etwa durch Physiotherapie - sind nicht so lukrativ. Und der medizinische Aktionismus muss aufhören. Man muss Patienten ohne Behandlung wegschicken dürfen.
Welchen Rat können Sie Patienten geben?
Vertraue nur dem Zweifel - das gilt als Lebensprinzip ohnehin. Patienten sind immer noch so gepolt, dass sie Informationen von Personen im weißen Kittel kaum hinterfragen. Also: Zweit- und Drittmeinung einholen, sich selbst informieren und kritisch sein. Außerdem muss man wissen: Selbstheilung und Gewöhnungseffekte sind vielfach sinnvoller als eine medizinische Behandlung.
Der Körper entwickelt selbst Gegenstrategien. Immunsystem und Selbstheilungskräfte sind bei Säugetieren über Jahrmillionen erprobt und funktionieren. So hat man bei Bandscheibenvorfällen festgestellt, dass es nach zwei Jahren den nicht operierten besser geht als den operierten Patienten.
Wie können wir alt werden und die Lebensqualität erhalten?
Das geht nur mit Lebensstiländerung. Bewegung ist als Prävention sinnvoll und notwendig. Das weiß jeder, aber viele machen es nicht. Wir reden nicht von sportlichen Leistungen. Viel wichtiger ist die tägliche Bewegung: zu Fuß zum Supermarkt, mit dem Fahrrad zur Arbeit. Über Suchtgifte wie Zigaretten, Alkohol und auch Medikamente brauchen wir nicht zu reden.
Bei der Ernährung ist entscheidend, wie viele naturbelassene oder industriell ultraverarbeitete Lebensmittel man isst. Vielfach unterschätzt wird Zucker, der in vielen Lebensmitteln versteckt ist und von der Toxizität wie Alkohol eingestuft werden müsste. Vor Umweltgiften wie der täglichen Giftdusche durch Feinstaub und Stickoxide können wir uns leider schlecht schützen.
Sie haben vor drei Jahren den weißen Kittel an den Nagel gehängt. Hätten Sie nicht auch als Teil des Systems etwas bewirken können?
Das habe ich vorher schon 25 Jahre lang versucht und konnte auch einiges bewegen: Ich habe als Radiologe nicht nur Bilder ausgewertet, sondern minimalinvasive Eingriffe durchgeführt, die Operationen ersetzt haben. Weniger Medizin, was sinnvoll gewesen wäre, war nicht möglich, weil nicht erwünscht. Erfüllungsgehilfe für eine falsche Medizin wollte ich nicht sein.
Würden Sie mit dem heutigen Wissen noch mal den Arztberuf ergreifen?
Eher nicht. Aber ich hatte Glück, dass ich als Radiologe weniger unsinnige Medizin machen musste.
Sind von Ihnen weitere Bücher zu erwarten?
Nein, erst mal nicht. Das Buch ist mein letzter Versuch, in der Medizin etwas zu bewegen, damit Patienten kritischer, unnötige Behandlungen reduziert und Kollegen aufgerüttelt werden.
Dr. med. Gerd Reuther,
Jahrgang 1959, stammt aus Neuenmarkt-Hegnabrunn im Landkreis Kulmbach
und lebt in Coburg. Nach dem Abitur am MGF-Gymnasium in Kulmbach
studierte er Medizin in Erlangen. Der Radiologe war zuletzt Leitender
Arzt am Klinikum in Saalfeld, zuvor ebenfalls in leitender Stellung in
Wiesbaden und Wien tätig sowie Privatdozent an der Universität Wien.
Der renommierte Radiologe, aufgewachsen in Hegnabrunn (Landkreis Kulmbach) und jetzt in Coburg beheimatet, hat das Gesundheitswesen grundlegend durchleuchtet. Herausgekommen ist eine Generalabrechnung mit dem Medizinbetrieb in Deutschland. Der Arzt mit über 30 Jahren Berufserfahrung deckt auf, dass die Medizin oft nicht am langfristigen Wohlergehen von Kranken ausgerichtet ist, sondern sich mehr am Gewinn von Kliniken, Ärzten und Pharmaindustrie orientiert.
Herr Reuther, haben Sie noch viele Freunde unter den Ärzten?
Gerd Reuther: Ja, doch. Die Reaktionen auf das Buch sind erstaunlich positiv. Ich habe mit vielen Kollegen gesprochen, die mir mindestens in Teilen recht geben. Sie sind genauso unzufrieden.
Sie sagen, dass den meisten ärztlichen Behandlungen der Nachweis der Wirksamkeit fehlt. Gelten Sie als Nestbeschmutzer?
Bei einem Teil der Kollegen bestimmt. Bei denen, die Behandlungen durchführen, die sie nie an sich selbst machen lassen würden. Sie befürchten eine Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenz. Wer das Patientenwohl in den Mittelpunkt stellt, sieht meine Kritik differenzierter.
Wann haben Sie gemerkt, dass im Gesundheitssystem etwas schiefläuft? Woher kommt Ihr Unbehagen?
Das Unbehagen hat sich schleichend entwickelt. Im Studium merkt man wenig. Da findet keine Methodenkritik statt. Nach der Facharztausbildung fangen die Zweifel an. Man sieht, dass nicht wenige Patienten durch die Behandlung Folgeschäden davontragen. Inzwischen gibt es Untersuchungen, die belegen, dass bestenfalls zehn Prozent der medizinischen Maßnahmen sinnvoll sind. Auch Hirschhausen stellt in den Raum, dass 80 Prozent der Medizin unnötig ist.
Sie provozieren. Sinngemäß sagen Sie: Medizin schadet oft mehr, als sie nützt.
Ja, das stimmt. Die Diskrepanz zwischen Nutzen und Schaden ist aber auch drastisch. Mein Buch enthält Zahlen, die nur Schätzungen sein können. Denn Patientenschäden und Todesfälle, die durch medizinische Maßnahmen bedingt oder mitverursacht sind, werden in Deutschland nicht systematisch untersucht und gemeldet. Aber es gibt gesicherte Zahlen aus dem Ausland: Todesfälle durch Operationen, Medikamente und Krankenhauskeime machen etwa ein Viertel aller Todesfälle aus - das wären für Deutschland zirka 200.000 im Jahr.
Was stört Sie am jetzigen System am meisten?
Das ist diese mangelnde Selbstkritik. Im Deutschen Ärzteblatt ist eine Arbeit über Behandlungsfehler erschienen. Mit dem Ergebnis: Das Risiko ist gering. Es wurden allerdings ausschließlich Zahlen verwendet, wenn sich Patienten oder deren Angehörige beschwerten. Anerkannt wurden insgesamt 1845 Fälle, davon 96 Todesfälle in einem ganzen Jahr. Das ist grotesk und bedeutet: Es gibt überhaupt keine Fehlerkultur. Fehlervermeidung ist nicht gewollt.
Kann das Medizinsystem so falsch sein, wenn zum Beispiel Herzpatienten durch einen einfachen Stent einen Herzinfarkt vermeiden konnten oder wenn durch die Polioimpfung die Kinderlähmung besiegt wurde?
Es gibt auch sinnvolle und lebensrettende Maßnahmen - nur, das ist die Minderheit. So findet auch bei Verengungen der Herzkranzgefäße regelmäßig eine Übertherapie statt. Etwa 30 Prozent der Stents müssten nicht gesetzt werden.
Das Patientenwohl muss immer an erster Stelle stehen. Das ist allzu oft nicht der Fall. Derzeit gehen wirtschaftliche Interessen häufig vor. Es wird gefragt: Welche Erlöse kann man mit welchen Maßnahmen erzielen? Deshalb werden Operationen häufiger durchgeführt, weil sie besser vergütet sind. Konservative Behandlungen - etwa durch Physiotherapie - sind nicht so lukrativ. Und der medizinische Aktionismus muss aufhören. Man muss Patienten ohne Behandlung wegschicken dürfen.
Welchen Rat können Sie Patienten geben?
Vertraue nur dem Zweifel - das gilt als Lebensprinzip ohnehin. Patienten sind immer noch so gepolt, dass sie Informationen von Personen im weißen Kittel kaum hinterfragen. Also: Zweit- und Drittmeinung einholen, sich selbst informieren und kritisch sein. Außerdem muss man wissen: Selbstheilung und Gewöhnungseffekte sind vielfach sinnvoller als eine medizinische Behandlung.
Der Körper entwickelt selbst Gegenstrategien. Immunsystem und Selbstheilungskräfte sind bei Säugetieren über Jahrmillionen erprobt und funktionieren. So hat man bei Bandscheibenvorfällen festgestellt, dass es nach zwei Jahren den nicht operierten besser geht als den operierten Patienten.
Wie können wir alt werden und die Lebensqualität erhalten?
Das geht nur mit Lebensstiländerung. Bewegung ist als Prävention sinnvoll und notwendig. Das weiß jeder, aber viele machen es nicht. Wir reden nicht von sportlichen Leistungen. Viel wichtiger ist die tägliche Bewegung: zu Fuß zum Supermarkt, mit dem Fahrrad zur Arbeit. Über Suchtgifte wie Zigaretten, Alkohol und auch Medikamente brauchen wir nicht zu reden.
Bei der Ernährung ist entscheidend, wie viele naturbelassene oder industriell ultraverarbeitete Lebensmittel man isst. Vielfach unterschätzt wird Zucker, der in vielen Lebensmitteln versteckt ist und von der Toxizität wie Alkohol eingestuft werden müsste. Vor Umweltgiften wie der täglichen Giftdusche durch Feinstaub und Stickoxide können wir uns leider schlecht schützen.
Sie haben vor drei Jahren den weißen Kittel an den Nagel gehängt. Hätten Sie nicht auch als Teil des Systems etwas bewirken können?
Das habe ich vorher schon 25 Jahre lang versucht und konnte auch einiges bewegen: Ich habe als Radiologe nicht nur Bilder ausgewertet, sondern minimalinvasive Eingriffe durchgeführt, die Operationen ersetzt haben. Weniger Medizin, was sinnvoll gewesen wäre, war nicht möglich, weil nicht erwünscht. Erfüllungsgehilfe für eine falsche Medizin wollte ich nicht sein.
Würden Sie mit dem heutigen Wissen noch mal den Arztberuf ergreifen?
Eher nicht. Aber ich hatte Glück, dass ich als Radiologe weniger unsinnige Medizin machen musste.
Sind von Ihnen weitere Bücher zu erwarten?
Nein, erst mal nicht. Das Buch ist mein letzter Versuch, in der Medizin etwas zu bewegen, damit Patienten kritischer, unnötige Behandlungen reduziert und Kollegen aufgerüttelt werden.
Der Autor
Dr. med. Gerd Reuther,
Jahrgang 1959, stammt aus Neuenmarkt-Hegnabrunn im Landkreis Kulmbach
und lebt in Coburg. Nach dem Abitur am MGF-Gymnasium in Kulmbach
studierte er Medizin in Erlangen. Der Radiologe war zuletzt Leitender
Arzt am Klinikum in Saalfeld, zuvor ebenfalls in leitender Stellung in
Wiesbaden und Wien tätig sowie Privatdozent an der Universität Wien.
Quelle und Dank an: www.infranken.de/von
STEPHAN TIROCH
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