Von der Theorie über die Fiktion zur Realität – diesen Weg versuchen Equilibristen zu gehen, um ihren Werten zum Durchbruch zu verhelfen: Gleichgewicht, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Das Tahiti-Projekt war zuerst eine Idee, dann ein spannender Ökothriller. Nun soll nach den Ideen des Bestseller-Romans ein Modellprojekt geschaffen werden: auf einer Südseeinsel oder anderswo. (Roland Rottenfußer)
Tahitis Präsident Omai hat
Grund zur Zufriedenheit: «Wir haben Sie hergebeten, damit Sie sich davon
überzeugen können, dass die menschliche Gemeinschaft funktioniert»,
sagt er vor internationalen Pressevertretern. «Dass sie frei sein kann
von Missgunst und Vorteilsnahme, dass die Kluft zwischen Arm und Reich
nicht zwingend notwendig ist. Die menschliche Gemeinschaft ist unsere
Heimat, ebenso wie die Natur unsere Heimat ist. Wir Polynesier begegnen
uns im gegenseitigen Respekt und verstehen, dass der Natur das gleiche
Recht gebührt».
Leider stammt das Zitat nicht aus einem
Sachtext, sondern aus einem utopischen Roman: «Das Tahiti-Projekt» von
Dirk C. Fleck. Ein Öko- und Sozialparadies Tahiti, wie es im Zitat
beschrieben wird, gibt es jedoch es in der Realität nicht. Auch der
aufrechte Präsident Omai wartet noch vergeblich auf seine
Amtseinführung. Der Roman spielt im Jahr 2022. Seine Handlung folgt dem
bei positiven Utopien üblichen Muster: Der deutsche Journalist Cording
wird von seiner Redaktion beauftragt, ein neuartiges ökologische
Experiment in Polynesien zu dokumentiert. Unter der Führung der
Insulanerin Maeva erkundet er die Insel. Für Thriller-Spannung sorgen
die Angriffe mächtiger transnationaler Konzerne, die die Idylle
bedrohen.
Grundeinkommen und Geld mit Verfallsdatum
Auf Dirk C. Flecks Tahiti sind viele der
kühnsten Visionen unserer Zeit Wirklichkeit: Z.B. ein neues Geldsystem,
das die negativen Wirkungen der Zinsdynamik vermeidet. Die Geldscheine
tragen besondere Nummerierungen, «die es dem Staat ermöglichten,
bestimmte Serien in festgelegten Zeiträumen für ungültig zu erklären und
zum Umtausch zurückzurufen. Damit sollte verhindert werden, dass
Bargeld dem Kreislauf durch Horten entzogen (…) wurde.» Realität ist im
fiktiven Tahiti auch das Bedingungslose Grundeinkommen. «Die Empfänger
des Geldes waren weder arbeitsscheu noch kriminell, auf der Basis einer
gesicherten Existenz gewann jeder Tahitianer genügend Freiraum, um seine
speziellen Fähigkeiten in die Gemeinschaft einzubringen.» Ausserdem im
Angebot: Eine Bodenreform, die Privatbesitz an Grund und Boden verbietet
und stattdessen nur Pachtverträge zulässt.
Eine dezentrale Energieversorgung ist ganz auf
regenerative Energien abgestimmt. Besteuert wird der Verbrauch von
Naturgütern, nicht die Arbeit. Der Individualverkehrs ist abgeschafft,
stattdessen gibt es ein preiswertes und umweltschonendes Verkehrssystem:
die «Reva-Tae» (kleine Gondeln, die der Fahrgast selbst bedienen kann).
Alles wird, wo möglich, aus Naturmaterialien hergestellt: Hanfbeton,
Lehm oder Bambus. Auch politisch ist im Roman-Tahiti einiges anders als
im Rest der Welt: Es gibt keine Parteien, stattdessen die direkte Wahl
von Personen, die in die vier (!) Parlamente des Landes entsandt werden:
Wirtschaftsparlament, politisches Parlament, Kulturparlament und
Grundwerteparlament. Auch das Justizsystem der Insel gibt Stoff zum
Nachdenken. Es wird auf Wiedergutmachung gesetzt, nicht auf Strafe.
Unbescholtene Bürger gestehen in öffentlichen Versammlungen freiwillig
(!) ihre Vergehen und bestimmen selbst, welchen Ausgleich sie dafür
leisten möchten.
Der Mensch uriniert in sein Wohnzimmer
Auch als kritischer Kommentar zur derzeitigen
Weltlage «funktioniert» der Roman bestens: «Der verstörte Homo sapiens
ahnte sehr wohl, dass die Aufgaben, denen er sich plötzlich
gegenübersah, zu mächtig geworden waren. So urinierte er also munter
weiter in sein Wohnzimmer. Anstatt aber seine Lebensweise in Frage zu
stellen, zog er es lieber vor, in aller Wissenschaftlichkeit über die
Saugfähigkeit des Teppichs zu diskutieren.» In den Passagen, die die
Welt ausserhalb Tahitis beschreiben, ist der Roman alles andere als
idyllisch. Vielmehr zeichnet Dirk C. Fleck ein düsteres Bild, und man
fragt sich: Ist das Utopie oder nicht eher eine Beschreibung der
Gegenwart? «Die westlichen Demokratien waren zu inhaltsleeren Gebilden
verkommen, hinter denen autoritäre Strukturen ans Licht kamen, wie sie
nur in Diktaturen möglich schienen.» Ist es legitim, die Leser mit einer
solch geschickten Mischung aus Fiktion und Realität zu verwirren?
Der Begriff der Utopie hat im
20. Jahrhundert an Anziehungskraft verloren. Denkt man an utopische
Romane, fallen einem zuerst die negativen ein. George Orwells «1984»,
Aldous Huxleys «Schöne neue Welt» oder José Saramagos «Die Stadt der
Blinden». Utopien sind im 20. Jahrhundert vor allem deshalb aus der Mode
gekommen, weil man den Begriff mit den gescheiterten
Gesellschaftsentwürfen des Nationalsozialismus und des Staatskommunismus
verband. «Utopien» stehen heute in der öffentlichen Debatte für
ideologische Maximalforderungen, die am wirklichen Leben vorbei gehen.
Dies allerdings ist nicht das Wesen der Utopie. So wie frühere
gesellschaftliche Entwürfe den Menschen überforderten, wird er vom
gegenwärtigen politischen Establishment unterfordert. Utopien sollen
eine bessere Realität nicht ersetzen, sondern ihr vorauseilen.
Von der Öko-Diktatur zum Öko-Paradies
Als Dirk C. Fleck 1993 seine Negativutopie «GO!
Die Öko-Diktatur» herausbrachte, hatte sich die Weltlage drastisch zum
Schlechteren gewandelt. Ökologisches Bewusstsein erschien nun
überlebenswichtig. In den 90ern war klar: Naturverbrauch und
Konsumverhalten der Menschen führen notwendig zum Kollaps der Biosphäre
und zur Auslöschung allen Lebens. Appelle an die Vernunft fruchten (bis
heute) wenig. War es da nicht vorstellbar, dass Erdschützer aus einem
Überlebensreflex heraus eine Diktatur errichten würden, um zu erzwingen,
was die Menschen nicht freiwillig tun? Die bittere Schattenseite: Das
Überleben der Erde wäre mit dem Tod der Freiheit erkauft.
Kritiker warfen Dirk C. Fleck wegen seines
Romans vor, er sympathisiere insgeheim mit der Öko-Diktatur. Verletzt
über die ungerechten Vorwürfe, zog sich Fleck eine Weile aus der
ökologischen Diskussion zurück. Bis er eines Tages einen Anruf von Eric
Bihl erhielt, Vorsitzender des Vereins «Equilibrismus e.V.» Bihl
erklärte Dirk C. Fleck, dass er nach wie vor an die Lernfähigkeit der
Menschen glaubte. Er überredete den Autor, einen positiven Zukunftsroman
zu schreiben, in dem die Visionen des Equilibrismus als bereits
verwirklicht dargestellt werden: «Das Tahiti-Projekt». Ein Bestseller
mit Thriller-Elementen, so das Kalkül, sollte die neuen Ideen einem
breiteren Publikum zugänglich machen. Immerhin rund 40.000 Leser haben
die Vision des «Tahiti-Projekts» bisher in sich aufgenommen. Aber wie
soll es jetzt weitergehen?
Equilibristen setzten ihre Hoffnung auf ein
Experiment im Grossen. Es soll über den privaten Rahmen hinausgehen und
von allen wichtigen gesellschaftlichen Kräften einer Region unterstützt
werden. Einem Staat, Teilstaat oder eine Insel zu finden, die ein
umfassendes equilibristisches Experiment wagt, ist sicher schwer. Dazu
ist das Bohren dicker Bretter nötig. Wenn es aber klappt, so
ist etwas Grosses geleistet: Ein gelungenes grossflächiges Experiment
wäre der Beweis dafür, dass eine Wirtschaftsordnung jenseits von
Kapitalismus und Kommunismus funktioniert. Es wäre der «Game-Changer»,
der Einstieg in die postkapitalistische Ära. Niemand könnte hinterher
mehr sagen: «Es klappt ja doch nicht».
Von der Fiktion zur Realität
Fortschrittliche Ideen bleiben entweder klein,
dann werden sie ignoriert; oder sie werden grösser und von den
Profiteuren des alten Systems gnadenlos bekämpft. Wie ist diese Dilemma
zu lösen? Eric Bihl und seine Mitstreiter sehen den Roman nur als einen
Zwischenschritt auf dem Weg zu einem realen ökologischen Modellprojekt.
Bihl stammt aus dem Elsass und war als französischer Soldat in
Polynesien stationiert. Er kennt die Gegend und bereiste verschiedene
Inseln des Südpazifik, um die Entscheidungsträger für die Idee eines
«echten» Tahiti-Projekts zu begeistern. Das reale Tahiti schied als
Schauplatz für das Experiment schnell aus. Mit einem Wirtschaftsraum von
180.000 Menschen ist das Land zu gross. Eric Bihls Plan, es mit der
Nachbarinsel Moorea zu versuchen, scheiterte am Widerstand des
Insel-Establishments.
Dafür gewann Bihl auf Moorea eine einflussreiche
Mitstreiterin: Roti Make, Präsidentin der Internationalen Frauenliga
für Frieden und Freiheit in Polynesien. Beiden gelang es, den
Ältestenrat sowie viele Menschen auf der kleinen Insel Rapa Iti von dem
Projekt zu überzeugen. Die Insel ist mit 520 Einwohnern fast zu klein
für ein Experiment mit Signalwirkung. Weit mehr Aufsehen würde ein
«Tahiti-Projekt» im kalten Island hervorrufen. Immerhin handelt es sich
um einen souveränen Staat am nördlichen Rand des kapitalistischen
Europa. Die Finanzkrise hat das Land an den Rand des Abgrunds gebracht,
die Isländer gehen aber kreativer mit der Krise um als die Staaten der
EU. Reykjawiks Bürgermeister Jon Gnarr ist ein gelernter Komiker. Er
bündelt das Protestpotenzial, das sich gegen die etablierten Parteien
richtete, sein Projekt droht aber mangels fundierter Inhalte zu
scheitern.
Es beginnt, wenn du handelst
Während also das Konzept Equilibrismus nach
einem Land sucht, wo es sich «ausprobieren» kann, suchen im Niedergang
begriffene Länder verzweifelt nach einem schlüssigen politischen
Konzept. Die Anzahl der Länder, die der Kapitalismus in eine Sackgasse
geführt hat, wird weiter anwachsen. Ganze Staaten werden Bankrott gehen
und an globale Feudalherren verramscht werden. Künftige Generationen
werden für den Schuldendienst pränatal versklavt. Gleichzeitig dürfen
sie den Folgen einer schon jetzt eskalierenden Klima- und
Umweltkatastrophe ausbaden – natürlich nur dann, wenn keine starke
Gegenbewegung dies verhindert. Die braucht aber neben präziser Kritik am
Bestehenden vor allem funktionierende positive Beispiele. Immerhin gibt
es jetzt – neben anderen – auch diese Hoffnung: Vieles deutet darauf
hin, dass das «Tahiti-Projekt» an der Schwelle zu seiner Realisierung
steht.
U-topie heisst, wörtlich übersetzt: «Nicht-Ort».
Man platziert ihn gern im «Nimmerland» und datiert ihn auf den «St.
Nimmerleinstag». Entsorgt man die Utopie ins Schattenreich des
Unrealisierbaren, bleibt sie für die Herrschenden ungefährlich. Ganz
anders verstehen sich jedoch Utopien von der Art des «Tahiti-Projekts».
Angebliche Alternativlosigkeit, wie sie von den Neoliberalen gern
postuliert wird, ist nur das Ergebnis mangelnder Fantasie. Also gilt es,
diese Gegenbilder zu erschaffen – in der Fantasie und in der
Realität! Sehr schön drückte es der sozialdemokratische Kulturpolitiker
Hilmar Hoffmann aus: «Utopien bleiben solange welche, wie die
Anstrengungen fehlen, ihre Realisierung voranzutreiben.» Oder, mit den
Worten von Dirk Fleck: «Es beginnt, wenn wir anfangen zu handeln!»
Buchtipps:
Dirk C. Fleck: Das Tahiti-Projekt. Piper Verlag. 34 S., Euro 8,95
Dirk C. Fleck: Maeva! Greifen Verlag. 336 S., Euro 19,95 (Fortsetzung von «Tahiti-Projekt»)
Volker Freystedt, Eric Bihl: Equilibrismus. Signum Verlag. 335 S. Als pdf-Dokument für Euro 5 zu bestellen auf der Webseite www.equilibrismus.de
Quelle und Dank an: www.zeitpunkt.ch
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen