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Sonntag, 11. September 2011

Das Tahiti-Projekt

Von der Theorie über die Fiktion zur Realität – diesen Weg versuchen Equilibristen zu gehen, um ihren Werten zum Durchbruch zu verhelfen: Gleichgewicht, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Das Tahiti-Projekt war zuerst eine Idee, dann ein spannender Ökothriller. Nun soll nach den Ideen des Bestseller-Romans ein Modellprojekt geschaffen werden: auf einer Südseeinsel oder anderswo. (Roland Rottenfußer)




Tahitis Präsident Omai hat Grund zur Zufriedenheit: «Wir haben Sie hergebeten, damit Sie sich davon überzeugen können, dass die menschliche Gemeinschaft funktioniert», sagt er vor internationalen Pressevertretern. «Dass sie frei sein kann von Missgunst und Vorteilsnahme, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zwingend notwendig ist. Die menschliche Gemeinschaft ist unsere Heimat, ebenso wie die Natur unsere Heimat ist. Wir Polynesier begegnen uns im gegenseitigen Respekt und verstehen, dass der Natur das gleiche Recht gebührt».

Leider stammt das Zitat nicht aus einem Sachtext, sondern aus einem utopischen Roman: «Das Tahiti-Projekt» von Dirk C. Fleck. Ein Öko- und Sozialparadies Tahiti, wie es im Zitat beschrieben wird, gibt es jedoch es in der Realität nicht. Auch der aufrechte Präsident Omai wartet noch vergeblich auf seine Amtseinführung. Der Roman spielt im Jahr 2022. Seine Handlung folgt dem bei positiven Utopien üblichen Muster: Der deutsche Journalist Cording wird von seiner Redaktion beauftragt, ein neuartiges ökologische Experiment in Polynesien zu dokumentiert. Unter der Führung der Insulanerin Maeva erkundet er die Insel. Für Thriller-Spannung sorgen die Angriffe mächtiger transnationaler Konzerne, die die Idylle bedrohen.

Grundeinkommen und Geld mit Verfallsdatum

Auf Dirk C. Flecks Tahiti sind viele der kühnsten Visionen unserer Zeit Wirklichkeit: Z.B. ein neues Geldsystem, das die negativen Wirkungen der Zinsdynamik vermeidet. Die Geldscheine tragen besondere Nummerierungen, «die es dem Staat ermöglichten, bestimmte Serien in festgelegten Zeiträumen für ungültig zu erklären und zum Umtausch zurückzurufen. Damit sollte verhindert werden, dass Bargeld dem Kreislauf durch Horten entzogen (…) wurde.» Realität ist im fiktiven Tahiti auch das Bedingungslose Grundeinkommen. «Die Empfänger des Geldes waren weder arbeitsscheu noch kriminell, auf der Basis einer gesicherten Existenz gewann jeder Tahitianer genügend Freiraum, um seine speziellen Fähigkeiten in die Gemeinschaft einzubringen.» Ausserdem im Angebot: Eine Bodenreform, die Privatbesitz an Grund und Boden verbietet und stattdessen nur Pachtverträge zulässt.

Eine dezentrale Energieversorgung ist ganz auf regenerative Energien abgestimmt. Besteuert wird der Verbrauch von Naturgütern, nicht die Arbeit. Der Individualverkehrs ist abgeschafft, stattdessen gibt es ein preiswertes und umweltschonendes Verkehrssystem: die «Reva-Tae» (kleine Gondeln, die der Fahrgast selbst bedienen kann). Alles wird, wo möglich, aus Naturmaterialien hergestellt: Hanfbeton, Lehm oder Bambus. Auch politisch ist im Roman-Tahiti einiges anders als im Rest der Welt: Es gibt keine Parteien, stattdessen die direkte Wahl von Personen, die in die vier (!) Parlamente des Landes entsandt werden: Wirtschaftsparlament, politisches Parlament, Kulturparlament und Grundwerteparlament. Auch das Justizsystem der Insel gibt Stoff zum Nachdenken. Es wird auf Wiedergutmachung gesetzt, nicht auf Strafe. Unbescholtene Bürger gestehen in öffentlichen Versammlungen freiwillig (!) ihre Vergehen und  bestimmen selbst, welchen Ausgleich sie dafür leisten möchten.

Der Mensch uriniert in sein Wohnzimmer

Auch als kritischer Kommentar zur derzeitigen Weltlage «funktioniert» der Roman bestens: «Der verstörte Homo sapiens ahnte sehr wohl, dass die Aufgaben, denen er sich plötzlich gegenübersah, zu mächtig geworden waren. So urinierte er also munter weiter in sein Wohnzimmer. Anstatt aber seine Lebensweise in Frage zu stellen, zog er es lieber vor, in aller Wissenschaftlichkeit über die Saugfähigkeit des Teppichs zu diskutieren.» In den Passagen, die die Welt ausserhalb Tahitis beschreiben, ist der Roman alles andere als idyllisch. Vielmehr zeichnet Dirk C. Fleck ein düsteres Bild, und man fragt sich: Ist das Utopie oder nicht eher eine Beschreibung der Gegenwart? «Die westlichen Demokratien waren zu inhaltsleeren Gebilden verkommen, hinter denen autoritäre Strukturen ans Licht kamen, wie sie nur in Diktaturen möglich schienen.» Ist es legitim, die Leser mit einer solch geschickten Mischung aus Fiktion und Realität zu verwirren?

Der Begriff der Utopie hat im 20. Jahrhundert an Anziehungskraft verloren. Denkt man an utopische Romane, fallen einem zuerst die negativen ein. George Orwells «1984», Aldous Huxleys «Schöne neue Welt» oder José Saramagos «Die Stadt der Blinden». Utopien sind im 20. Jahrhundert vor allem deshalb aus der Mode gekommen, weil man den Begriff mit den gescheiterten Gesellschaftsentwürfen des Nationalsozialismus und des Staatskommunismus verband. «Utopien» stehen heute in der öffentlichen Debatte für ideologische Maximalforderungen, die am wirklichen Leben vorbei gehen. Dies allerdings ist nicht das Wesen der Utopie. So wie frühere gesellschaftliche Entwürfe den Menschen überforderten, wird er vom gegenwärtigen politischen Establishment unterfordert. Utopien sollen eine bessere Realität nicht ersetzen, sondern ihr vorauseilen.

Von der Öko-Diktatur zum Öko-Paradies

Als Dirk C. Fleck 1993 seine Negativutopie «GO! Die Öko-Diktatur» herausbrachte, hatte sich die Weltlage drastisch zum Schlechteren gewandelt. Ökologisches Bewusstsein erschien nun überlebenswichtig. In den 90ern war klar: Naturverbrauch und Konsumverhalten der Menschen führen notwendig zum Kollaps der Biosphäre und zur Auslöschung allen Lebens. Appelle an die Vernunft fruchten (bis heute) wenig. War es da nicht vorstellbar, dass Erdschützer aus einem Überlebensreflex heraus eine Diktatur errichten würden, um zu erzwingen, was die Menschen nicht freiwillig tun? Die bittere Schattenseite: Das Überleben der Erde wäre mit dem Tod der Freiheit erkauft.

Kritiker warfen Dirk C. Fleck wegen seines Romans vor, er sympathisiere insgeheim mit der Öko-Diktatur. Verletzt über die ungerechten Vorwürfe, zog sich Fleck eine Weile aus der ökologischen Diskussion zurück. Bis er eines Tages einen Anruf von Eric Bihl erhielt, Vorsitzender des Vereins «Equilibrismus e.V.» Bihl erklärte Dirk C. Fleck, dass er nach wie vor an die Lernfähigkeit der Menschen glaubte. Er überredete den Autor, einen positiven Zukunftsroman zu schreiben, in dem die Visionen des Equilibrismus als bereits verwirklicht dargestellt werden: «Das Tahiti-Projekt». Ein Bestseller mit Thriller-Elementen, so das Kalkül, sollte die neuen Ideen einem breiteren Publikum zugänglich machen. Immerhin rund 40.000 Leser haben die Vision des «Tahiti-Projekts» bisher in sich aufgenommen. Aber wie soll es jetzt weitergehen?

Equilibristen setzten ihre Hoffnung auf ein Experiment im Grossen. Es soll über den privaten Rahmen hinausgehen und von allen wichtigen gesellschaftlichen Kräften einer Region unterstützt werden. Einem Staat, Teilstaat oder eine Insel zu finden, die ein umfassendes equilibristisches Experiment wagt, ist sicher schwer. Dazu ist das Bohren dicker Bretter nötig. Wenn es aber klappt, so ist etwas Grosses geleistet: Ein gelungenes grossflächiges Experiment wäre der Beweis dafür, dass eine Wirtschaftsordnung jenseits von Kapitalismus und Kommunismus funktioniert. Es wäre der «Game-Changer», der Einstieg in die postkapitalistische Ära. Niemand könnte hinterher mehr sagen: «Es klappt ja doch nicht».

Von der Fiktion zur Realität

Fortschrittliche Ideen bleiben entweder klein, dann werden sie ignoriert; oder sie werden grösser und von den Profiteuren des alten Systems gnadenlos bekämpft. Wie ist diese Dilemma zu lösen? Eric Bihl und seine Mitstreiter sehen den Roman nur als einen Zwischenschritt auf dem Weg zu einem realen ökologischen Modellprojekt. Bihl stammt aus dem Elsass und war als französischer Soldat in Polynesien stationiert. Er kennt die Gegend und bereiste verschiedene Inseln des Südpazifik, um die Entscheidungsträger für die Idee eines «echten» Tahiti-Projekts zu begeistern. Das reale Tahiti schied als Schauplatz für das Experiment schnell aus. Mit einem Wirtschaftsraum von 180.000 Menschen ist das Land zu gross. Eric Bihls Plan, es mit der Nachbarinsel Moorea zu versuchen, scheiterte am Widerstand des Insel-Establishments.

Dafür gewann Bihl auf Moorea eine einflussreiche Mitstreiterin: Roti Make, Präsidentin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit in Polynesien. Beiden gelang es, den Ältestenrat sowie viele Menschen auf der kleinen Insel Rapa Iti von dem Projekt zu überzeugen. Die Insel ist mit 520 Einwohnern fast zu klein für ein Experiment mit Signalwirkung. Weit mehr Aufsehen würde ein «Tahiti-Projekt» im kalten Island hervorrufen. Immerhin handelt es sich um einen souveränen Staat am nördlichen Rand des kapitalistischen Europa. Die Finanzkrise hat das Land an den Rand des Abgrunds gebracht, die Isländer gehen aber kreativer mit der Krise um als die Staaten der EU. Reykjawiks Bürgermeister Jon Gnarr ist ein gelernter Komiker. Er bündelt das Protestpotenzial, das sich gegen die etablierten Parteien richtete, sein Projekt droht aber mangels fundierter Inhalte zu scheitern.

Es beginnt, wenn du handelst

Während also das Konzept Equilibrismus nach einem Land sucht, wo es sich «ausprobieren» kann, suchen im Niedergang begriffene Länder verzweifelt nach einem schlüssigen politischen Konzept. Die Anzahl der Länder, die der Kapitalismus in eine Sackgasse geführt hat, wird weiter anwachsen. Ganze Staaten werden Bankrott gehen und an globale Feudalherren verramscht werden. Künftige Generationen werden für den Schuldendienst pränatal versklavt. Gleichzeitig dürfen sie den Folgen einer schon jetzt eskalierenden Klima- und Umweltkatastrophe ausbaden – natürlich nur dann, wenn keine starke Gegenbewegung dies verhindert. Die braucht aber neben präziser Kritik am Bestehenden vor allem funktionierende positive Beispiele. Immerhin gibt es jetzt – neben anderen – auch diese Hoffnung: Vieles deutet darauf hin, dass das «Tahiti-Projekt» an der Schwelle zu seiner Realisierung steht.

U-topie heisst, wörtlich übersetzt: «Nicht-Ort». Man platziert ihn gern im «Nimmerland» und datiert ihn auf den «St. Nimmerleinstag». Entsorgt man die Utopie ins Schattenreich des Unrealisierbaren, bleibt sie für die Herrschenden ungefährlich. Ganz anders verstehen sich jedoch Utopien von der Art des «Tahiti-Projekts». Angebliche Alternativlosigkeit, wie sie von den Neoliberalen gern postuliert wird, ist nur das Ergebnis mangelnder Fantasie. Also gilt es, diese Gegenbilder zu erschaffen – in der Fantasie und in der Realität! Sehr schön drückte es der sozialdemokratische Kulturpolitiker Hilmar Hoffmann aus: «Utopien bleiben solange welche, wie die Anstrengungen fehlen, ihre Realisierung voranzutreiben.» Oder, mit den Worten von Dirk Fleck: «Es beginnt, wenn wir anfangen zu handeln!»



Buchtipps:

Dirk C. Fleck: Das Tahiti-Projekt. Piper Verlag. 34 S., Euro 8,95

Dirk C. Fleck: Maeva! Greifen Verlag. 336 S., Euro 19,95 (Fortsetzung von «Tahiti-Projekt»)

Volker Freystedt, Eric Bihl: Equilibrismus. Signum Verlag. 335 S. Als pdf-Dokument für Euro 5 zu bestellen auf der Webseite www.equilibrismus.de

Quelle und Dank an:  www.zeitpunkt.ch

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