Raphael Fellmer hat kein Konto. Sein Essen fischt er aus dem Müll. Um kostenlos wohnen zu können, hilft er bei Reparaturen. Ihm und seiner Familie geht es blendend.
Ausgerechnet von dem Interview mit dem Mann ohne Geld kehrt die Reporterin mit einem Sack voller Geschenke zurück nach Hause.
Bio-Edamer aus einer Molkerei im Allgäu. Ein Glas Pesto, „das Gold Liguriens“, wie das Etikett verspricht. Ein Pfund gemahlener Hochlandkaffee aus Nicaragua, fair gehandelt. „Fair gehandelt und auf den Müll geschmissen, das ist doch dermaßen scheinheilig“, sagt Raphael Fellmer.
Die Lebensmittel sind seine Beute der vergangenen Nacht. Fellmer hat die Sachen aus den Containern dreier Biosupermärkte gefischt. Drei- bis viermal die Woche radelt er los, meist so gegen Mitternacht, ausgerüstet mit einer Kopftaschenlampe und einem großen Rucksack, „um Lebensmittel aus dem Müll zu retten“.
Fellmer ernährt sich ausschließlich mit Bioprodukten. Mitnehmen kann er nur einen Bruchteil der Dinge, die er in den Mülltonnen der „Bio-Company“ oder von Reformhäusern findet.
Und doch hat Fellmer weit mehr, als er und seine Freundin essen können. So verschenkt er eben vieles, an Freunde, Nachbarn, Besucher. Fellmers Vorratskammer und sein „Kühlschrank“ – ein Regal im Hof unter einer Plane – sind bis zum Bersten gefüllt.
Müsli, Linsen, Schokolade, Joghurt, Buttermilch, Leinöl, alles originalverpackt. Tomaten, Lauchstangen, Äpfel, Bananen. „Man macht die Tonne auf und sieht die Berge an Lebensmitteln darin“, sagt Fellmer.
„Das ist ein absurdes Bild, denn diese Dinge sind dort definitiv fehl am Platz, das sind einwandfreie, wohlschmeckende Lebensmittel.“ Neulich hat er eine komplette Großmarkt-Tonne mit Cornflakes entdeckt. Auf den Kartons waren Bilder der Fußball-WM, doch das Endspiel bereits vorüber. Ein anderes Mal entdeckte er einen Container, der bis oben hin gefüllt war mit gefrorenen Hähnchen.
Fellmer gehört zur wachsenden Szene derjenigen, die sich ausschließlich aus dem Müll ernähren. Im Internet haben Mülltaucher Tauschbörsen eröffnet. Öl oder Salz zum Beispiel sind begehrt. Paprika hingegen ist eigentlich jeden Tag im Container. In Internet erfahren Neueinsteiger grundlegende Informationen: Etwa, dass Aldi die aussortierten Lebensmittel presst und man sich den Weg zu deren Tonnen sparen kann.
Wie die meisten der Mülltaucher hätte Fellmer diese Art der Nahrungsbesorgung finanziell keinesfalls nötig. Er kommt aus einer Akademikerfamilie, ist im gutbürgerlichen Berliner Stadtteil Zehlendorf aufgewachsen. In seinem Europa-Studium an der Universität Den Haag galt er als besonders begabt.
Fellmer „containert“ aus Überzeugung. „Ich finde es gut, dafür zu sorgen, dass möglichst wenig weggeschmissen wird, angesichts von Hunger auf der Erde, angesichts vom Klimawandel, angesichts von den riesigen Mengen an Energie und Wasser, die verbraucht werden, damit diese Lebensmittel produziert werden können, die wir dann in die Tonne schmeißen.“
Jeder deutsche Bürger wirft jedes Jahr etwa 100 Kilo auf den Müll. Das österreichische Institut für Abfallwirtschaft fand heraus, dass jeder Discounter täglich etwa 45 Kilogramm an noch genießbaren Lebensmitteln entsorgt.
Laut der Welternährungsorganisation der UN landen insgesamt etwa ein Drittel bis die Hälfte aller Lebensmittel in Europa und Nordamerika auf dem Müll. 30 Prozent davon werden ungeöffnet entsorgt.
Gab es vor 30 Jahren noch zehn Brot- und fünf Brötchensorten, sind heute 60 Brot- und rund 30 Brötchensorten im Angebot. Fast alle werden täglich gebacken. Viele Supermarktleiter wollen, dass die Regale auch um 18 Uhr noch voll sind, schließlich gilt es, den Kunden zu locken und nicht satt, sondern eher hungrig zu machen.
Viele Bäcker müssen jeden Abend rund ein Drittel ihrer Produkte wegwerfen. Die Mülltaucher nennen Bäckereien auch „Goldgruben“.
Lauchzwiebeln, Radieschen, Kopfsalat dürfen nur einen Tag verkauft werden, am nächsten Morgen will der Supermarkt ein frisches Produkt anbieten. Kartoffeln mit Dellen, Kohlköpfe mit einem welken äußeren Blatt, Zitronen mit einer braunen Stelle an der Schale – all das kauft der Kunde nicht. Die Ware muss möglichst perfekt aussehen.
Artikel, die schlecht laufen, von denen nur noch zwei, drei Tüten im Regal liegen, werden weggeworfen. Ebenso Artikel mit einem alten Verpackungsdesign, für die ein neues entworfen wurde. Produkte, die beim Auspacken aus den großen Kartons von den Supermarkt-Angestellten aus Versehen mit dem Cutter-Messer beschädigt wurden, die einen Riss haben im Etikett.
Milchtüten, Joghurts, die noch nicht abgelaufen sind, aber von denen dieselben Produkte mit einem längeren Haltbarkeitsdatum bereits im Regal stehen. Oder Artikel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) überschritten ist, auch wenn sie noch einwandfrei genießbar sind. Das Datum ist eigentlich nur ein Gütesiegel, das garantiert, dass die Produkte genauso aussehen und schmecken, wie vom Hersteller beabsichtigt.
Ein Joghurt etwa ist nach Ablauf des MHD laut einer Studie der Technischen Universität München noch zwei Wochen genießbar, möglicherweise hat sich lediglich etwas Molke abgesetzt, die man wieder unterrühren muss. Fellmer findet diesen Joghurt kartonweise in den Tonnen.
Schon während seines Europa-Studiums in den Niederlanden fing er an, seine Nahrung aus dem Müll zu fischen – „um ein Zeichen zu setzen gegen Konsum und Überflussgesellschaft“. „Dadurch, dass wir viel wegwerfen, geht im Rest der Welt der Preis für die Lebensmittel hoch“, sagt Fellmer.
Jeder Verbraucher könne durch bewussten Konsum zur Verbesserung der Situation beitragen. Frei nach Mahatma Gandhi: Du musst der Wandel sein, den du in der Welt sehen möchtest. Der Spruch hängt auf einem Zettelchen mit Bleistift geschrieben über Fellmers Küchentür.
In den USA hat sich eine Bewegung gebildet, die sich „community supported agriculture“ nennt. Das Prinzip ist einfach: Eine Gruppe von Verbrauchern schließt sich zusammen, stellt einen Landwirt an und macht damit Handel und Transport überflüssig. Mehr als 2500 solcher Kooperativen gibt es in Nordamerika. Der Trend ist nun in Europa angekommen.
19 solidarische Landwirtschaftsbetriebe gibt es mittlerweile in Deutschland. Jedes Mitglied zahlt monatlich eine Pauschale von rund 100 Euro und kann dafür vom Bauern so viel Obst und Gemüse abholen, wie es braucht. Ein guter Deal für beide Seiten: Der Kunde bekommt frische Ware, und der Bauer ist gegen schwankende Preise abgesichert.
Vor zwei Jahren versuchte Fellmer, seine Bedürfnisse weiter zu reduzieren und ganz ohne Geld auszukommen. Er machte sich zum Ziel, zur Hochzeit eines Freundes nach Mexiko zu reisen, ohne dafür einen Cent auszugeben. Gemeinsam mit zwei Kumpels übernachtete er in Lastwagen, auf der Straße, in Schulen, bei der Feuerwehr.
Er trampte, heuerte auf Segelbooten an und bot seine Arbeitskraft zum Tausch. Elf Monate dauerte es, bis Fellmer zu Fuß von Guatemala die mexikanische Grenze überquerte. Zwei reiche Italiener hatten ihn auf ihrer Segelyacht mit über den Atlantik an die brasilianische Küste genommen.
Fellmer kochte, schrubbte das Deck oder hielt nachts Wache. „Ich fand diese Erfahrung so bereichernd, dass in Mexiko meine Entscheidung fiel, ab sofort komplett ohne Geld zu leben“, sagt Fellmer.
In Mittelamerika traf er seine Freundin Nieves, gebürtig aus Mallorca. Nieves wurde schwanger und das Projekt, ohne Geld zu leben, musste noch einmal unterbrochen werden.
Um zurück nach Europa zu gelangen, fand das Paar über die Homepage couchsurfing.com (auf der Menschen kostenlos Reisenden ihr Gästesofa anbieten) Kontakt zum Mitarbeiter einer Fluggesellschaft, der den beiden für 150 Euro zwei Notsitze in einer Maschine nach Deutschland vermittelte.
In Berlin schlüpften die beiden bei Fellmers Eltern unter und hängten Zettel aus: „Wir suchen ab sofort ein Haus oder eine Wohnung, wo wir anstatt Miete einen Ausgleich schaffen: Haus hüten, einkaufen, kochen, putzen, PC-Hilfe, Haustier pflegen und noch viel mehr.“
Alma Lucia ist jetzt vier Monate alt. Die kleine Familie lebt in einer Einliegerwohnung im Souterrain einer Villa in Kleinmachnow bei Berlin. Dem Besitzer des Hauses, einem Anwalt, hilft Fellmer bei der Gartenarbeit oder bei Reparaturen. Dafür zahlt dieser der Familie sogar Strom und Wasser. „Wir gehen mit Ressourcen sowieso sehr sparsam um“, erklärt Fellmer. Nur selten dreht er die Heizung auf.
Das Licht knipst er so spät wie möglich an. „Wir brauchen nicht immer neue Autos und Häuser. Wir können mehr teilen“, erklärt er sein Konzept. Dass er abhängig ist von der Großzügigkeit anderer, stört ihn nicht. „Letztlich sind wir alle von irgendetwas abhängig“, sagt Fellmer. „Das kann ja auch etwas Schönes sein.“
Mit seiner Art zu leben hat Fellmer schon viele Millionäre kennengelernt. Neulich etwa auf dem Weg nach Süddeutschland stoppte an der Autobahn ?ein großer Mercedes.
„Leute mit viel Geld begegnen mir stets mit großem Respekt und interessieren sich für mein Konzept. Ganz anders als etwa viele Alt-Linke, von denen mir manchmal ein großer Neid entgegenschlägt“, erzählt Fellmer. „Die sagen dann, ey Alter, so wie du wollte ich auch immer leben und jetzt bin ich in der Mühle.“
Seit einiger Zeit schon hat Fellmer kein Bankkonto mehr. Anders seine Freundin Nieves. Zwar will auch sie ihr Leben so weit wie möglich reduzieren, aber ein bisschen Geld gibt sie aus. „Nahrung bekomme ich aus den Containern, die Kleidung von Spenden oder aus Umsonst-Läden. Aber ein bisschen Geld brauche ich, vielleicht 30 Euro im Monat für Toilettenpapier oder wenn ich mal den Bus nehme“, sagt Nieves.
Sie ist Psychologin und hat bis vor zwei Jahren in einer Schule in Barcelona gearbeitet. In dieser Zeit hat sie Geld gespart. Das Kindergeld, was sie nun für ihre Tochter bekommt, will sie nutzen, um sich und ihr Kind krankenversichern zu lassen. „Diesen Kompromiss möchte ich machen.“
Eine Frauenärztin hat Nieves während ihrer Schwangerschaft ein paar Mal umsonst behandelt. Aber die Hebamme für ihre Hausgeburt musste sie bezahlen. „Wir sind noch nicht perfekt“, sagt Raphael Fellmer. „Wir hängen in der Geldmühle drin, ohne es zu wollen.“
Lebensmittel aus dem Müll zu holen ist für ihn keine langfristige Lösung. Sein Ziel ist es, von den Sachen zu leben, die er selber anbaut. Auch das Tauschen ist für ihn nur vorübergehend. Fellmer will in einer Gemeinschaft mit anderen Familien leben, eine „community“ aufbauen.
Vor ein paar Monaten war er Gast in einer Talkshow mit dem Titel „Ohne Moos nix los?“. Ein deutscher Aussteiger hat ihnen nach der Sendung angeboten, auf seinem Bauernhof in der Toskana zu leben. Vielleicht ziehen die drei im Sommer dorthin. Weg aus Deutschland wollen sie auf jeden Fall. Nieves ist es zu kalt.
Juristisch gesehen begeht Raphael Fellmer jede zweite Nacht Hausfriedensbruch, wenn er auf die Gelände der Supermärkte eindringt. Doch viele Filialleiter wissen, dass nachts Leute kommen, um sich die Lebensmittel zu holen, und haben nichts dagegen.
Manche weisen auch ihre Mitarbeiter an, die noch genießbaren Lebensmittel vom Müll zu trennen, dann findet Fellmer den Müll auf der einen Seite der Tonne, die Lebensmittel auf der anderen in Tüten oder Kartons.
Einem anderen Mülltaucher jedoch wurde jüngst der Prozess gemacht, zum ersten Mal in Deutschland wegen „Diebstahl von Müll“. Das Verfahren wurde schnell eingestellt. „Das findet natürlich auch jeder Richter absurd, dass es illegal sein soll, Lebensmittel zu retten, aber legal Lebensmittel wegzuschmeißen“, meint Fellmer. „Es gibt ja auch viele Bedürftige, die sich ihr Essen aus den Tonnen holen.“
Wer ohne Geld leben müsse, aber gern welches hätte, dem ginge es schlecht. „Du musst es wollen, ohne Geld zu leben. Wenn du dazu gezwungen wirst, funktioniert das nicht.“
Sein Studienfreund Nicolas, der sich mit ihm nach Mexiko aufmachte, brach die Reise ab. Er hatte Schwierigkeiten damit zu warten. „Geduld ist schon eine wichtige Voraussetzung“, sagt Fellmer. „Man muss etwa darauf warten können, Schokolade zu essen, und kann sich nicht sofort jeden Wunsch erfüllen.“
Er selbst aber mag das Gefühl, auf sich selbst angewiesen zu sein. In seinem Leben gibt es wenig Ablenkung. Kein Kino, kein Kneipenbesuch.
„Wir stehen auf und frühstücken, räumen ein bisschen auf, singen unserer Tochter etwas vor, gehen spazieren“, beschreibt Nieves den Tagesablauf der Familie. „Wir fühlen uns sehr reich, denn wir verfügen über ein sehr kostbares Gut: Zeit.“
Quelle und Dank an: weltonline und yahoo-Nachrichten
Ausgerechnet von dem Interview mit dem Mann ohne Geld kehrt die Reporterin mit einem Sack voller Geschenke zurück nach Hause.
Bio-Edamer aus einer Molkerei im Allgäu. Ein Glas Pesto, „das Gold Liguriens“, wie das Etikett verspricht. Ein Pfund gemahlener Hochlandkaffee aus Nicaragua, fair gehandelt. „Fair gehandelt und auf den Müll geschmissen, das ist doch dermaßen scheinheilig“, sagt Raphael Fellmer.
Die Lebensmittel sind seine Beute der vergangenen Nacht. Fellmer hat die Sachen aus den Containern dreier Biosupermärkte gefischt. Drei- bis viermal die Woche radelt er los, meist so gegen Mitternacht, ausgerüstet mit einer Kopftaschenlampe und einem großen Rucksack, „um Lebensmittel aus dem Müll zu retten“.
Fellmer ernährt sich ausschließlich mit Bioprodukten. Mitnehmen kann er nur einen Bruchteil der Dinge, die er in den Mülltonnen der „Bio-Company“ oder von Reformhäusern findet.
Und doch hat Fellmer weit mehr, als er und seine Freundin essen können. So verschenkt er eben vieles, an Freunde, Nachbarn, Besucher. Fellmers Vorratskammer und sein „Kühlschrank“ – ein Regal im Hof unter einer Plane – sind bis zum Bersten gefüllt.
Müsli, Linsen, Schokolade, Joghurt, Buttermilch, Leinöl, alles originalverpackt. Tomaten, Lauchstangen, Äpfel, Bananen. „Man macht die Tonne auf und sieht die Berge an Lebensmitteln darin“, sagt Fellmer.
„Das ist ein absurdes Bild, denn diese Dinge sind dort definitiv fehl am Platz, das sind einwandfreie, wohlschmeckende Lebensmittel.“ Neulich hat er eine komplette Großmarkt-Tonne mit Cornflakes entdeckt. Auf den Kartons waren Bilder der Fußball-WM, doch das Endspiel bereits vorüber. Ein anderes Mal entdeckte er einen Container, der bis oben hin gefüllt war mit gefrorenen Hähnchen.
Fellmer gehört zur wachsenden Szene derjenigen, die sich ausschließlich aus dem Müll ernähren. Im Internet haben Mülltaucher Tauschbörsen eröffnet. Öl oder Salz zum Beispiel sind begehrt. Paprika hingegen ist eigentlich jeden Tag im Container. In Internet erfahren Neueinsteiger grundlegende Informationen: Etwa, dass Aldi die aussortierten Lebensmittel presst und man sich den Weg zu deren Tonnen sparen kann.
Wie die meisten der Mülltaucher hätte Fellmer diese Art der Nahrungsbesorgung finanziell keinesfalls nötig. Er kommt aus einer Akademikerfamilie, ist im gutbürgerlichen Berliner Stadtteil Zehlendorf aufgewachsen. In seinem Europa-Studium an der Universität Den Haag galt er als besonders begabt.
Fellmer „containert“ aus Überzeugung. „Ich finde es gut, dafür zu sorgen, dass möglichst wenig weggeschmissen wird, angesichts von Hunger auf der Erde, angesichts vom Klimawandel, angesichts von den riesigen Mengen an Energie und Wasser, die verbraucht werden, damit diese Lebensmittel produziert werden können, die wir dann in die Tonne schmeißen.“
Jeder deutsche Bürger wirft jedes Jahr etwa 100 Kilo auf den Müll. Das österreichische Institut für Abfallwirtschaft fand heraus, dass jeder Discounter täglich etwa 45 Kilogramm an noch genießbaren Lebensmitteln entsorgt.
Laut der Welternährungsorganisation der UN landen insgesamt etwa ein Drittel bis die Hälfte aller Lebensmittel in Europa und Nordamerika auf dem Müll. 30 Prozent davon werden ungeöffnet entsorgt.
Gab es vor 30 Jahren noch zehn Brot- und fünf Brötchensorten, sind heute 60 Brot- und rund 30 Brötchensorten im Angebot. Fast alle werden täglich gebacken. Viele Supermarktleiter wollen, dass die Regale auch um 18 Uhr noch voll sind, schließlich gilt es, den Kunden zu locken und nicht satt, sondern eher hungrig zu machen.
Viele Bäcker müssen jeden Abend rund ein Drittel ihrer Produkte wegwerfen. Die Mülltaucher nennen Bäckereien auch „Goldgruben“.
Lauchzwiebeln, Radieschen, Kopfsalat dürfen nur einen Tag verkauft werden, am nächsten Morgen will der Supermarkt ein frisches Produkt anbieten. Kartoffeln mit Dellen, Kohlköpfe mit einem welken äußeren Blatt, Zitronen mit einer braunen Stelle an der Schale – all das kauft der Kunde nicht. Die Ware muss möglichst perfekt aussehen.
Artikel, die schlecht laufen, von denen nur noch zwei, drei Tüten im Regal liegen, werden weggeworfen. Ebenso Artikel mit einem alten Verpackungsdesign, für die ein neues entworfen wurde. Produkte, die beim Auspacken aus den großen Kartons von den Supermarkt-Angestellten aus Versehen mit dem Cutter-Messer beschädigt wurden, die einen Riss haben im Etikett.
Milchtüten, Joghurts, die noch nicht abgelaufen sind, aber von denen dieselben Produkte mit einem längeren Haltbarkeitsdatum bereits im Regal stehen. Oder Artikel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) überschritten ist, auch wenn sie noch einwandfrei genießbar sind. Das Datum ist eigentlich nur ein Gütesiegel, das garantiert, dass die Produkte genauso aussehen und schmecken, wie vom Hersteller beabsichtigt.
Ein Joghurt etwa ist nach Ablauf des MHD laut einer Studie der Technischen Universität München noch zwei Wochen genießbar, möglicherweise hat sich lediglich etwas Molke abgesetzt, die man wieder unterrühren muss. Fellmer findet diesen Joghurt kartonweise in den Tonnen.
Schon während seines Europa-Studiums in den Niederlanden fing er an, seine Nahrung aus dem Müll zu fischen – „um ein Zeichen zu setzen gegen Konsum und Überflussgesellschaft“. „Dadurch, dass wir viel wegwerfen, geht im Rest der Welt der Preis für die Lebensmittel hoch“, sagt Fellmer.
Jeder Verbraucher könne durch bewussten Konsum zur Verbesserung der Situation beitragen. Frei nach Mahatma Gandhi: Du musst der Wandel sein, den du in der Welt sehen möchtest. Der Spruch hängt auf einem Zettelchen mit Bleistift geschrieben über Fellmers Küchentür.
In den USA hat sich eine Bewegung gebildet, die sich „community supported agriculture“ nennt. Das Prinzip ist einfach: Eine Gruppe von Verbrauchern schließt sich zusammen, stellt einen Landwirt an und macht damit Handel und Transport überflüssig. Mehr als 2500 solcher Kooperativen gibt es in Nordamerika. Der Trend ist nun in Europa angekommen.
19 solidarische Landwirtschaftsbetriebe gibt es mittlerweile in Deutschland. Jedes Mitglied zahlt monatlich eine Pauschale von rund 100 Euro und kann dafür vom Bauern so viel Obst und Gemüse abholen, wie es braucht. Ein guter Deal für beide Seiten: Der Kunde bekommt frische Ware, und der Bauer ist gegen schwankende Preise abgesichert.
Vor zwei Jahren versuchte Fellmer, seine Bedürfnisse weiter zu reduzieren und ganz ohne Geld auszukommen. Er machte sich zum Ziel, zur Hochzeit eines Freundes nach Mexiko zu reisen, ohne dafür einen Cent auszugeben. Gemeinsam mit zwei Kumpels übernachtete er in Lastwagen, auf der Straße, in Schulen, bei der Feuerwehr.
Er trampte, heuerte auf Segelbooten an und bot seine Arbeitskraft zum Tausch. Elf Monate dauerte es, bis Fellmer zu Fuß von Guatemala die mexikanische Grenze überquerte. Zwei reiche Italiener hatten ihn auf ihrer Segelyacht mit über den Atlantik an die brasilianische Küste genommen.
Fellmer kochte, schrubbte das Deck oder hielt nachts Wache. „Ich fand diese Erfahrung so bereichernd, dass in Mexiko meine Entscheidung fiel, ab sofort komplett ohne Geld zu leben“, sagt Fellmer.
In Mittelamerika traf er seine Freundin Nieves, gebürtig aus Mallorca. Nieves wurde schwanger und das Projekt, ohne Geld zu leben, musste noch einmal unterbrochen werden.
Um zurück nach Europa zu gelangen, fand das Paar über die Homepage couchsurfing.com (auf der Menschen kostenlos Reisenden ihr Gästesofa anbieten) Kontakt zum Mitarbeiter einer Fluggesellschaft, der den beiden für 150 Euro zwei Notsitze in einer Maschine nach Deutschland vermittelte.
In Berlin schlüpften die beiden bei Fellmers Eltern unter und hängten Zettel aus: „Wir suchen ab sofort ein Haus oder eine Wohnung, wo wir anstatt Miete einen Ausgleich schaffen: Haus hüten, einkaufen, kochen, putzen, PC-Hilfe, Haustier pflegen und noch viel mehr.“
Alma Lucia ist jetzt vier Monate alt. Die kleine Familie lebt in einer Einliegerwohnung im Souterrain einer Villa in Kleinmachnow bei Berlin. Dem Besitzer des Hauses, einem Anwalt, hilft Fellmer bei der Gartenarbeit oder bei Reparaturen. Dafür zahlt dieser der Familie sogar Strom und Wasser. „Wir gehen mit Ressourcen sowieso sehr sparsam um“, erklärt Fellmer. Nur selten dreht er die Heizung auf.
Das Licht knipst er so spät wie möglich an. „Wir brauchen nicht immer neue Autos und Häuser. Wir können mehr teilen“, erklärt er sein Konzept. Dass er abhängig ist von der Großzügigkeit anderer, stört ihn nicht. „Letztlich sind wir alle von irgendetwas abhängig“, sagt Fellmer. „Das kann ja auch etwas Schönes sein.“
Mit seiner Art zu leben hat Fellmer schon viele Millionäre kennengelernt. Neulich etwa auf dem Weg nach Süddeutschland stoppte an der Autobahn ?ein großer Mercedes.
„Leute mit viel Geld begegnen mir stets mit großem Respekt und interessieren sich für mein Konzept. Ganz anders als etwa viele Alt-Linke, von denen mir manchmal ein großer Neid entgegenschlägt“, erzählt Fellmer. „Die sagen dann, ey Alter, so wie du wollte ich auch immer leben und jetzt bin ich in der Mühle.“
Seit einiger Zeit schon hat Fellmer kein Bankkonto mehr. Anders seine Freundin Nieves. Zwar will auch sie ihr Leben so weit wie möglich reduzieren, aber ein bisschen Geld gibt sie aus. „Nahrung bekomme ich aus den Containern, die Kleidung von Spenden oder aus Umsonst-Läden. Aber ein bisschen Geld brauche ich, vielleicht 30 Euro im Monat für Toilettenpapier oder wenn ich mal den Bus nehme“, sagt Nieves.
Sie ist Psychologin und hat bis vor zwei Jahren in einer Schule in Barcelona gearbeitet. In dieser Zeit hat sie Geld gespart. Das Kindergeld, was sie nun für ihre Tochter bekommt, will sie nutzen, um sich und ihr Kind krankenversichern zu lassen. „Diesen Kompromiss möchte ich machen.“
Eine Frauenärztin hat Nieves während ihrer Schwangerschaft ein paar Mal umsonst behandelt. Aber die Hebamme für ihre Hausgeburt musste sie bezahlen. „Wir sind noch nicht perfekt“, sagt Raphael Fellmer. „Wir hängen in der Geldmühle drin, ohne es zu wollen.“
Lebensmittel aus dem Müll zu holen ist für ihn keine langfristige Lösung. Sein Ziel ist es, von den Sachen zu leben, die er selber anbaut. Auch das Tauschen ist für ihn nur vorübergehend. Fellmer will in einer Gemeinschaft mit anderen Familien leben, eine „community“ aufbauen.
Vor ein paar Monaten war er Gast in einer Talkshow mit dem Titel „Ohne Moos nix los?“. Ein deutscher Aussteiger hat ihnen nach der Sendung angeboten, auf seinem Bauernhof in der Toskana zu leben. Vielleicht ziehen die drei im Sommer dorthin. Weg aus Deutschland wollen sie auf jeden Fall. Nieves ist es zu kalt.
Juristisch gesehen begeht Raphael Fellmer jede zweite Nacht Hausfriedensbruch, wenn er auf die Gelände der Supermärkte eindringt. Doch viele Filialleiter wissen, dass nachts Leute kommen, um sich die Lebensmittel zu holen, und haben nichts dagegen.
Manche weisen auch ihre Mitarbeiter an, die noch genießbaren Lebensmittel vom Müll zu trennen, dann findet Fellmer den Müll auf der einen Seite der Tonne, die Lebensmittel auf der anderen in Tüten oder Kartons.
Einem anderen Mülltaucher jedoch wurde jüngst der Prozess gemacht, zum ersten Mal in Deutschland wegen „Diebstahl von Müll“. Das Verfahren wurde schnell eingestellt. „Das findet natürlich auch jeder Richter absurd, dass es illegal sein soll, Lebensmittel zu retten, aber legal Lebensmittel wegzuschmeißen“, meint Fellmer. „Es gibt ja auch viele Bedürftige, die sich ihr Essen aus den Tonnen holen.“
Wer ohne Geld leben müsse, aber gern welches hätte, dem ginge es schlecht. „Du musst es wollen, ohne Geld zu leben. Wenn du dazu gezwungen wirst, funktioniert das nicht.“
Sein Studienfreund Nicolas, der sich mit ihm nach Mexiko aufmachte, brach die Reise ab. Er hatte Schwierigkeiten damit zu warten. „Geduld ist schon eine wichtige Voraussetzung“, sagt Fellmer. „Man muss etwa darauf warten können, Schokolade zu essen, und kann sich nicht sofort jeden Wunsch erfüllen.“
Er selbst aber mag das Gefühl, auf sich selbst angewiesen zu sein. In seinem Leben gibt es wenig Ablenkung. Kein Kino, kein Kneipenbesuch.
„Wir stehen auf und frühstücken, räumen ein bisschen auf, singen unserer Tochter etwas vor, gehen spazieren“, beschreibt Nieves den Tagesablauf der Familie. „Wir fühlen uns sehr reich, denn wir verfügen über ein sehr kostbares Gut: Zeit.“
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