Die Lehren des Don Juan Matus (der Schamane), an Carlos Castaneda
Der wissende Mensch
"Kann jeder ein Wissender sein?" fragt Castaneda Don Juan.
"Nein nicht jeder", antwortet dieser.
"Was muß denn ein Mensch tun, um ein Wissender zu werden?"
"Er muß seine vier natürlichen Feinde
herausfordern und besiegen. Ja ein Mensch kann sich nur dann wissend
nennen, wenn er fähig ist, alle vier Feinde zu besiegen".
"Kann denn jeder, der diese Feinde schlägt, ein Wissender sein?"
"Jeder, der sie besiegt hat, wird ein Wissender".
"Aber gibt es nicht irgendwelche besonderen Bedingungen, die ein Mensch erfüllen muß, bevor er mit diesen Feinden kämpft?"
"Nein jeder kann versuchen ein
Wissender zu werden; sehr wenigen gelingt es wirklich, aber das ist nur
natürlich. Die Feinde, die ein Mensch der ein Wissender werden will auf
dem Weg des Lebens trifft, sind wirklich schrecklich, die meisten
Menschen unterliegen ihnen."
"Was für Feinde sind das, Don Juan?"
"Wenn ein Mensch anfängt zu lernen,
ist er sich über seine Ziele nicht klar. Sein Vorsatz ist schlecht,
seine Absicht wage. Er hofft auf Belohnungen, die nie eintreffen werden,
denn er weiß nichts von den Härten des Lebens. Er beginnt langsam zu
lernen - zuerst Schritt für Schritt, dann in größeren Sprüngen. Und bald
sind seine Gedanken durcheinander. Was er lernt, ist nicht was er sich
ausgemalt hat und so beginnt er sich zu ängstigen. Lernen ist niemals,
was man erwartet hat. Jeder Schritt des Lebens ist eine neue Aufgabe,
und das Erleben der Furcht nimmt erbarmungslos und unnachgiebig zu. Sein
Vorsatz wird ein Schlachtfeld.
Und so ist er über seinen ersten Feind gestolpert: DIE FURCHT!
Ein schrecklicher Feind - tückisch
und schwierig zu überwinden. Er bleibt an jeder Wegbiegung verborgen,
lauernd, wartend. Und wenn der Mensch, erschrickt durch seine
Anwesenheit, fortläuft, wird sein Feind seine Suche beendet haben."
"Was geschieht mit dem Menschen, wenn er aus Furcht davonläuft?"
"Nichts geschieht mit ihm, nur wird
er niemals lernen. Er wird niemals ein Wissender werden. Er wird
vielleicht ein Angeber oder ein harmloser ängstlicher Mensch; auf jeden
Fall wird er ein geschlagener Mensch sein. Sein erster Feind wird seinem
Verlangen ein Ende gesetzt haben."
"Und wie kann er die Furcht besiegen?"
"Die Antwort ist sehr einfach. Er
darf nicht fortlaufen. Er muß seine Furcht besiegen, er muss ihr trotzen
und den nächsten Schritt gehen und den nächsten und den nächsten. Er
muß nur aus Furcht bestehen und das darf nicht aufhören. Das ist die
Regel! Und ein Moment wird kommen, wo sein erster Feind zurückweicht.
Der Mensch beginnt sich seiner selbst sicher zu sein. Sein Vorsatz wird
stärker. Lernen ist nicht länger eine erschreckene Aufgabe. Wenn dieser
glückliche Moment gekommen ist, kann der Mensch, ohne zögern sagen, daß
er seinen ersten natürlichen Feind besiegt hat."
"Geschieht das plötzlich, oder allmählich?"
"Es geschieht allmählich, doch wird die Furcht plötzlich und schnell überwunden."
"Aber wird ein Mensch sich nicht wieder fürchten, wenn ihm etwas Neues geschieht?"
"Nein ein Mensch, der einmal die
Furcht überwunden hat ist für den Rest seines Lebens frei von ihr, weil
er anstatt der Furcht Klarheit gewonnen hat - eine Klarheit der
Gedanken, die die Furcht auslöscht. Aber dann kennt ein Mensch seine
Wünsche: er weiß sie zu befriedigen. Er kann die neuen Schritte des
Lebens voraussehen, und alles ist von deutlicher Klarheit umgeben. Der
Mensch fühlt, dass nichts verborgen ist. Und so hat er seinen zweiten
Feind getroffen: DIE KLARHEIT!
Diese Klarheit der Gedanken, die so
schwierig zu erlangen ist, vertreibt die Furcht, aber sie macht auch
blind. Sie zwingt den Mensch, sich niemals selbst anzuzweifeln. Sie gibt
ihm die Sicherheit, alles zu tun, was ihm gefällt, denn er sieht die
Dinge klar. Und er ist mutig, denn er ist sicher und er schreckt vor
nichts zurück, weil er sich eben sicher ist. Aber all das ist ein
Fehler, es ist etwas unvollständiges. Wenn der Mensch dieser
vorgetäuschten Macht nachgiebt, ist er von seinem zweiten Feind besiegt
worden und wird mit dem Lernen spielen. Er wird eilen, wenn er geduldig
sein soll, oder er wird geduldig sein, wenn er eilen sollte. Und er wird
mit dem Lernen spielen, bis er endet, unfähig, noch irgendetwas zu
lernen."
"Was wird aus dem Mensch, der so besiegt wird, Don Juan, stirbt er deswegen?"
"Nein, er stirbt nicht. Sein zweiter
Feind hat ihn nur kaltgestellt bei dem Versuch ein Wissender zu werden.
Statt dessen könnte aus ihm ein gleichgültiger Kämpfer werden oder ein
Clown. Aber die Klarheit, für die er so teuer bezahlt hat, wird sich nie
wieder in Dunkel oder Angst verwandeln. Er wird klar sehen, so lange er
lebt, aber er wird auch nichts mehr lernen, oder nach irgendwas
suchen."
"Was muß er tun, um nicht besiegt zu werden?"
"Er muß tun, was er mit der Furcht
getan hat: er muss seiner Klarheit trotzen und nur mit ihr sehen und
geduldig warten und vorsichtig abwägen, bevor er neue Schritte tut; er
muss vor allem denken, dass seine Klarheit fast ein Fehler ist. Und ein
Augenblick wird kommen, da er verstehen wird, dass seine Klarheit nur
ein Punkt vor seinen Augen war. Und so wird er seinen zweiten Feind
besiegt haben und er wird in eine Lage kommen, in der ihm nichts mehr schaden kann. Das wird sein Feind sein. Es wird nicht nur ein Punkt vor
seinem Auge sein, es wird wahre Macht sein.
Zu diesem Zeitpunkt wird er wissen,
dass die Macht, die er schon so lange gesucht hat, endlich die seine
ist. Er kann mit ihr machen, was ihm gerade dazu einfällt. Er beherrscht
seinen Verbündeten. Sein Wunsch ist Gesetz. Er sieht alles was um ihn
herum ist. Aber er hat auch seinen dritten Feind getroffen: DIE MACHT!
Macht ist der stärkste aller Feinde. Und natürlich ist es das Einfachste, nachzugeben. Schließlich ist der Mensch unbesiegbar.
Er befiehlt, er beginnt berechnete Risiken einzugehen und macht Gesetze, denn er ist der Herrscher.
Ein Mensch auf dieser Stufe bemerkt
kaum, wie der dritte Feind ihn einkreist. Und plötzlich wird er, ohne es
zu merken, gewiss seinen Kampf verloren haben. Sein Feind wird ihn zu
einem grausamen, unberechenbaren Menschen gemacht haben."
"Wird er seine Macht verlieren?"
"Nein, er wird niemals seine Klarheit oder seine Macht verlieren."
"Was wird ihn dann von einem Wissenden unterscheiden?"
"Ein Mensch, der von der Macht
besiegt ist, stirbt, ohne wirklich gewusst zu haben, wie mit ihr
umzugehen ist. Macht ist nur eine Last über sein Schicksal. Solch ein
Mensch hat keine Gewalt über sich selbst und kann nicht entscheiden,
wann oder wie er seine Macht anwenden soll."
"Ist eine Niederlage durch einen dieser Feinde eine endgültige Niederlage?"
"Natürlich ist sie endgültig. Wenn
einer dieser Feinde einen Menschen zu Fall gebracht hat, gibt es nichts,
was er noch tun kann."
"Ist es zum Beispiel möglich,
dass ein Mensch, der von der Macht besiegt wurde, seinen Fehler einsieht
und auf seinen Weg zurückkehrt?"
"Nein, wenn ein Mensch einmal nachgibt, ist er erledigt."
"Aber was geschieht, wenn er nur vorübergehend von der Macht geblendet wird und sie dann zurückweist?"
"Das bedeutet, dass sein Kampf noch
weiter geht. Dass bedeutet, dass er immer noch versucht ein Wissender zu
werden. Ein Mensch ist nur dann besiegt, wenn er nicht länger versucht
und sich selbst aufgibt."
"Aber ist es dann nicht möglich,
Don Juan, dass ein Mensch sich vielleicht jahrelang der Furcht ergibt,
aber er sie schließlich besiegt?"
"Gewiss nicht. Wenn er sich der
Furcht ergibt, wird er sie niemals besiegen, weil er das Lernen scheuen
und es nie wieder versuchen wird. Aber wenn er inmitten seiner Furcht
jahrelang zu lernen versucht, wird er sie eventuell besiegen, weil er
sich ihr nie ergeben hat."
"Wie kann er seinen dritten Feind besiegen, Don Juan?"
"Er muss ihn vorsätzlich
herausfordern. Er muss einsehen, dass die Macht, die er scheinbar
gewonnen hat, niemals wirklich seine ist. Er muss sich jeder Zeit selber
beherrschen, und alles, was er gelernt hat, vorsichtig und ehrlich
gebrauchen. Wenn er sieht, dass Klarheit und Macht ohne
Selbstbeherrschung schlimmer als Fehler sind, wird er einen Punkt
erreichen, wo sich ihm alles fügt. Dann wird er wissen, wann und wie er
seine Macht gebraucht. Und so wird er seinen dritten Feind besiegt
haben. Der Mensch wird am Ende seiner Reise des Lebens sein, und
unversehens wird er dem letztem seiner Feinde begegnen: Das Altern!
Dieser Feind wird der grausamste von
allen sein, er ist der, den er nicht völlig schlagen kann, sondern nur
bekämpfen. Das ist die Zeit, wenn ein Mensch keine Furcht und geduldige,
klare Gedanken hat - das ist eine Zeit, da er seine Macht beherrscht,
aber es ist auch die Zeit, da er ein unüberwindliches Verlangen nach
Ruhe hat. Wenn er seinem Verlangen, auszuruhen und zu vergessen völlig
nachgibt, wenn er sich selbst in Müdigkeit wiegt, wird er seine letzte
Runde verloren haben und sein Feind wird ihn zu einem schwachen, alten
Geschöpf niederstrecken. Sein Verlangen sich zurückzuziehen wird all die
Klarheit, seine Macht und sein Wissen unterdrücken. Aber wenn
der Mensch seine Müdigkeit abschüttelt und sein Schicksal zu Ende lebt,
kann er ein Wissender genannt werden, wenn auch nur für kurze Zeit,
soweit es ihm gelingt, seinen letzten unbesiegbaren Feind erfolgreich
abzuschütteln. Diese Zeit der Klarheit, der Macht und des Wissens ist der grösste Lohn auf Erden."
Quelle und Dank an: www.rumoro.de
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